Der Kandidat, der warten kann

Rudolf Scharping auf Wahlkampftour in der SPD: Er bietet keine Visionen, aber fest umrissene Leitbilder / Als Redner spröde, im Gespräch gewinnend  ■ Von Tissy Bruns

Am Ende des Gesprächs greift der Ministerpräsident zu einem unverbindlichen Kniff. Abends, beim Bürgerempfang in Kastellaun, könnte man ja noch weiterreden, bietet er der Bürgerinitiative gegen den geplanten Zivilflughafen Hahn an. Die sitzt unzufrieden zu seiner Linken am Tisch des Gemeindezentrums von Büchenbeuren und hat keinen leichten Stand in der knappen dreiviertel Stunde, die das Programm der landesväterlichen Rundfahrt durch den Rhein-Hunsrück-Kreis zum Thema Flughafen vorsieht. „Ein bißchen provinziell, oder?“, kommentiert Rudolf Scharping die recht allgemein gehaltenen Alternativen des BI-Sprechers. An der anderen Seite des Tisches haben die ehrwürdigen Vertreter der „Bürger für Hahn“ Platz genommen. Diese Bürgerinitiative der etwas anderen Art verfügt eine Satzung, 400 eingeschriebene Mitglieder und Pressesprecher. Dem wiederum beweisen die 9.800 gesammelten Unterschriften für das Konversionsprojekt, „daß der Hunsrücker viel Sinn für Realität hat“.

Der Ministerpräsident nimmt es mit unbewegter Miene. Eben hat er sich unmißverständlich für den Flughafen inklusive Nachtflugerlaubnis ausgesprochen, denn 800 Arbeitsplätze gehen hier durch den amerikanischen Abzug verloren und 250 Millionen DM Kaufkraft jährlich. Solche Zwänge der Realität führt Scharping gern an und argumentiert mit Kenntnissen bis ins Detail. Doch der wohlfeile Verweis auf die Mehrheiten in der betroffenenen Region liegt dem Bewerber um das Spitzenamt in der SPD fern, obwohl die Auftritte der Pro- und Contra-Initiativen fast dazu verführen. Durchsetzen will er sich, aber um der Sache willen, und nicht, um als Sieger den Raum zu verlassen.

Rudolf Scharping, Jahrgang 47, aufgewachsen in dem Land, das er seit zwei Jahren regiert, absolviert regelmäßig Reisen in die rheinland-pfälzischen Kreise und Städte. Jetzt, im Juni, sind sie unversehens Teil des innerparteilichen Wahlkampfs geworden, den die SPD-Mitglieder am Sonntag entscheiden werden. Zu seinen Gunsten, wie Kandidat Scharping zuversichtlich annimmt. Keine Frage, daß ihm seine Landespartei diesen Optimismus nahelegt. Außerhalb der rheinland-pfälzischen Landesgrenzen sieht das etwas anders aus, Scharping weiß es und er geht gelassen damit um. Das ändert sich gerade jeden Tag, kontert er auf die Frage nach mangelnden Bekanntheitsgraden. Hat Scharping allzu viel großkoalitionäre Neigungen? Es sei schon seltsam, wenn dieselben Leute die Einigung beim Solidarpakt beklagen und sich am nächsten Tag darüber beschweren, warum Pflegeversicherung und Wohnungsprogramm noch nicht mit der Bundesregierung unter Dach und Fach gebracht seien. Er gilt als blaß, ohne Ecken und Kanten? Politik als ästhetischer Gestus, das sei seine Sache nie gewesen und ohnehin sei es damit vorbei.

Der Jüngste aus der Enkelrunde versucht heute so wenig wie früher, die schillernde Brillianz der einstigen Hoffnungsträger zu kopieren. Weder auf seinen Wahlveranstaltungen noch auf der Tournee durch Wiebelsheim, Rheinböllen, Simmern und Sohren legt er es darauf an, zu begeistern. Erst nach zweistündiger Diskussion zeigt sich Scharping seinen Gesprächspartnern – manchmal – gelöst und witzig. Als Redner vor einer Wahlversammlung wirkt er spröde, im direkten Gegenüber gewinnend. Trotzdem kommt er auch vor großem Publikum an. Denn es gehört zu seinen Talenten, seine jeweiligen Zuhörer dezent, aber unnachgiebig auf Ungereimtheiten und Widersprüche der eigenen Haltung hinzuweisen. Dann fängt bekanntlich das Nachdenken erst an. So übersetzt sich die Bemerkung zum Gestus im Kopf: Haltet mir bitte nicht als Schwäche vor, wovon ihr bei anderen doch bis zum Überdruß genug habt.

Auch die Genossen und Genossinnen bei der Wahlveranstaltung im Kölner Kolpinghaus fühlen sich gelegentlich ein klein wenig ertappt – und gehen gerade deshalb mit. Scharping erzählt von seinen Pflegeheimbesuchen und wünscht sich „Politiker, die sich dieses Minimum an sozialer Erfahrung erhalten“. Die hat im Saal gewiß auch nicht jeder. Er bringt die Rede darauf, daß die Mehrheiten in der Gesellschaft wichtiger seien, als die in der Partei. Da erinnert sich doch jeder, daß in den vergangenen Monaten vor allem Parteiinternes anstand. Beifall, als er sagt: „Wenn wir allen Interessen folgen wollen, werden wir eine Partei völliger Beliebigkeit“ – Zuvor hatte Scharping erklärt, woran die rot-grüne Koalition in Rheinland-Pfalz gescheitert sei: Mit den Grünen wäre er gegen das St. Florians-Denken bei der Müllproblematik nicht angekommen.

In Köln zählt die SPD immer noch stolze 10.000 Mitglieder. Der dunkle Saal, die langen Tischreihen, der in rotes Tuch gehüllte Präsidiumstisch, zeigen die Veranstaltung im Kolpinghaus traditionsgebundener als die Kölner SPD wirklich ist. Politisch und sozial beherbergt sie alles, was gemeinhin „die auseinanderdriftenden Milieus“ genannt wird. Wie alles auseinanderläuft, daß viel geredet, aber nichts auf den Punkt gebracht wird, daran leiden die 250 Versammelten und dieses Leiden weiß Scharping anzusprechen. Großer Beifall, als er begründet, warum es keine Koalitionsaussage für 1994 geben sollte. Die Orientierung auf eine bestimte Koalition entzweie die eigenen Reihen, statt sie zusammenzuführen. Und: „Je stärker die SPD wird, desto unwichtiger wird die Frage nach einer Koalition.“ Gegenkandidat Gerhard Schröder, der für Rot-Grün wirbt, kommt namentlich nur in einem anderen Zusammenhang vor. Scharping lobt die Initiative für die Atom-Konsens-Gespräche.

Formeln dieser Art hat Scharping wie seine Konkurrenten trotz der kurzen Wahlkampfzeit natürlich zu Hauf im Gepäck. Attacke: Waigel zum Hüter der Staatsfinanzen zu machen sei so intelligent, wie den Grafen Dracula zum Hüter der Blutbank. Ermutigung: Bei den Notstandsgesetzen sei die Partei ähnlich zerrissen gewesen, wie jetzt beim Asyl, ein Jahr später hieß der Kanzler der Bundesrepublik Brandt. Und zur Ermutigung die Wahrheit: nicht mehr die fröhliche westdeutsche Verteilungsgesellschaft, sondern die gesamtdeutsche Aufbaugesellschaft sei heute unsere Realität.

Visionen hat Scharping nicht im Angebot. Aber er vertritt umrissene Leitbilder. Das Wort vom Spagat liebt er nicht. Der Begriff aus den 80er Jahren, als die Enkel sich anschickten, die Partei zu modernisieren, andere soziale Schichten anzusprechen, neue Fragen aufzuwerfen, nein, er will nicht gelten lassen, daß die Volkspartei SPD sich zwischen dem Arbeiter und der Lehrerin zerreißen muß. Wer nicht glaube, daß die Interessen der Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen, dicht beieinanderliegen, der könne sie auch nicht bündeln. Schutzmacht der kleinen Leute zu sein, das reiche so wenig aus, wie die Addition von Minderheiten, die die Demokraten in den USA lange und vergeblich versucht hätten. Wenn nur die Schwächsten untereinander solidarisch seien, das wäre eine verhängnisvolle Kürzung des Solidaritätsbegriffs.

Zusammenführen, Integration der auseinanderfallenden Gesellschaft – nach diesem Raster agiert Scharping auch in einer bleischweren Nachmittagsstunde in Blüchenbeuren. Es ist die fünfte Station an diesem Tag. Nach den Winzern, den Autozulieferern und einem guten Mittagessen geht es nun um Aussiedlerprobleme. Während die mitreisenden Kollegen schon beim mittäglichen Pressegespräch nicht mehr ganz genau wußten, ob die Bemerkung „Die Qualität ist da, es fehlt an der Identifizierbarkeit“ auf die SPD oder den mittelrheinischen Wein gemünzt war, meistert Scharping die Mühen der Ebene angestrengt und geduldig. Läßt sich nichts daran ändern, daß jugendliche Aussiedler um ihre Berufschancen gebracht werden, weil sie neben der deutschen auch noch die englische Sprache nachholen müssen? Warum sind so wenige Aussiedlerkinder in Vereinen? Es soll was nachkommen, verspricht der Landesvater am Ende. Er verlangt aber auch etwas: Einen Bericht der Jugendorganisationen, und an einen Tisch zusammensetzen sollen sich die Leute, auch wenn kein Ministerpräsident kommt.

Integration, nicht die multikulturelle Gesellschaft sei sein Stichwort, wenn es um die doppelte Staatsbürgerschaft geht, verkündet Scharping indessen vor Bonner Journalistenrunden, die vielleicht lieber das Gegenteil hören würden. Sperrig auch sein Umgang mit einem anderen Thema: Gibt es mit Oskar Lafontaine die Absprache über die Kanzlerkandidatur oder nicht? Scharping will als Parteivorsitzender das erste Wort haben und sorgt dafür, daß allenthalben kolportiert wird, er sei noch nie Tandem gefahren. Der große Lauschangriff gilt ihm als Paradebeispiel dafür, daß die Unterwerfung mit der Annahme der Fragestellung beginne. Er vertraue darauf, vertritt Scharping in Köln, daß deutsche Gerichte zwischen einem privaten Wohnzimmer und dem Hinterraum eines Bordells verantwortlich unterscheiden könnten. Die Geldwäsche, die allgemeine Verunsicherung durch die Kriminalität, gegen die sich die normalen Leute nicht wie die Reichen durch private Sicherheitsdienste schützen können, das müßten die Themen der SPD sein.

Jede politische Aktion beginnt damit, auszusprechen, was ist – das Lassalle-Wort ist ein Credo des Kandidaten Scharping. Der betreibt sein ganzes Leben, wie in der Diskussion um Parteien und Politikerverdruß oft beklagt wird, Politik als Beruf. Immerhin nimmt er diesen Beruf ernst. Der Bundestagsabgeordnete, der die SPD-Enkel gern als die 50jährigen young boys bezeichnet, würde dieses Wort auf Scharping kaum anwenden. Scharpings Karriere ist auch nicht von der schneidigen Art, die in der Union und der FDP eine ganze Riege von ununterscheidbaren Klassenersten hervorgebracht hat. Die Erfahrung, in der zweiten Reihe gearbeitet zu haben, ist nicht schlecht für die erste, sagt er. Scharping ist in Rheinland-Pfalz unspektakulär aufgestiegen und steht doch seit Ende 1990 als potentieller Spitzenmann der SPD im Hintergrund.

Wieder dehnt sich die Zeit, als abends in Kastellaum die letzte Station der Hunsrück-Tournee eingeläutet wird. Erst redet der Landrat, dann der Bürgermeister, dann kommen noch die Viertklässler dran. Der Kandidat kann warten. Mit geneigtem Kopf, die Arme verschränkt, wechselt Scharping ganz gelegentlich das Standbein, schlägt den linken über den rechten Arm und umgekehrt. Da hat einer gründlich und wahrscheinlich früh gelernt, seine Kräfte einzuteilen.

Am Ende des Abends steht in der Stadthalle tatsächlich eine Runde zusammen, in der weitergestritten wird. Nicht vier, wie am Nachmittag, sechs, acht Flughafengegner reden auf den Ministerpräsidenten ein. Die Nachfrage bestätigt, was zu vermuten war: Es handelt sich um ein Gespräch unter SPD-Mitgliedern.