■ Besteigt Jens Reich das Bundespräsidenten-Karussell?
: Der Weltbürger aus Pankow

Ausflüge demokratisch gesinnter Naturwissenschaftler in die Welt der Politiker endeten in Deutschland meist in tiefer, wechselseitiger Frustration. Vergebens stritt Rudolf Virchow gegen Bismarck und den preußisch-deutschen Militärstaat. Vergebens wandte sich Carl-Friedrich von Weizsäcker, der bereit gewesen wäre, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, gegen die Strategie vom Gleichgewicht des Schreckens und gegen die aggressive Besitzstandswahrung der Bundesrepublik auf Kosten der armen Welt. Wenn die deutsche Politikerkaste einen Wissenschaftler von Ruf als einen der ihren akzeptiert, dann nur um den Preis, daß er sich seiner politischen Vision entledigt und mit der jeweils gängigen Version von Realpolitik seinen Frieden macht.

Indem sie sich für die Präsidentschaftskandidatur des Naturwissenschaftlers, Arztes, Publizisten und Politikers Jens Reich einsetzt, hat eine namhafte Gruppe von Intellektuellen jetzt den erneuten Versuch unternommen, dieses trostlose Kontinuum deutscher Geschichte (Unterkapitel „Geist und Macht“) aufzubrechen. Wie kein anderer der bisher genannten Kandidaten vereint Jens Reich die Tugenden, nach denen die politischen Verhältnisse „in diesem unserem Land“ (H.K.) schreien. Er ist prinzipienfester Radikaldemokrat, aber kein Fetischist der „Basis“, er verteidigt die Interessen der „Ossis“, aber ohne beleidigtes Ressentiment. Er läßt sich von den — auch politischen — Realitäten belehren und praktiziert doch, was Adorno einmal als „exakte Phantasie“ bezeichnet hat. Er liebt die Bücher, ist in vielen Literaturen zu Hause, was seine Neugier auf Menschen unterschiedlichster Herkunft nicht beeinträchtigt hat. Er spricht Sprachen aus beiden Hälften des alten Europa. Er ist von chinesischer Höflichkeit, aber schon viele haben die Härte zu spüren bekommen, mit der er seine politischen Einsichten verteidigt. Er hat etwas vom altdeutschen Bildungsbürgertum an sich, aber ohne jede Borniertheit und Schlafmützigkeit. Er ist Weltbürger und Einwohner von Pankow. Sein einziges Problem sind die Anflüge von Ekel und Müdigkeit, die ihn, den politisch Engagierten, beim Umgang mit den Politikern von Zeit zu Zeit überkommen.

Auch Richard von Weizsäcker hat versucht, den Geist der zivilen, der Bürgergesellschaft unter die Deutschen zu bringen. Allzu oft aber hat er, als es darauf angekommen wäre, Klarheit und Härte zu zeigen, auf einen verschwommenen Ausgleich gesetzt. Das notwendige Maß an Zivilcourage im Amt wird man Jens Reich zutrauen können. Allein der Vorschlag, ihn als Kandidaten zu nominieren, ist eine Ermutigung in finsteren Zeiten. Christian Semler