Endstation Prag-Bulovka

Erst langsam wird Aids in der Tschechischen Republik zum Thema / Gefährdung durch zunehmenden Sex-Tourismus / Kaum Geld für Prävention und Betreuung  ■ Aus Prag Tomas Niederberghaus

Wer mit der Straßenbahn in Prags Nordosten fährt, wird irgendwann die Stimme des Schaffners hören: „Bulovka“. In Gebäude Sieben des gleichnamigen Hospitals sitzen junge Männer und Frauen auf hölzernen Klappstühlen. Verstohlene Blicke durchkreuzen den kahlen Korridor. Diese Menschen sind keine gewöhnlichen Blinddarm- und Knochenbruchpatienten. Sie sind gekommen, um einen HIV-Test machen zu lassen, oder sie sind bereits an Aids erkrankt und holen sich in der ambulanten Station ihre Medikamente ab.

Bulovka ist das einzige Aids- Zentrum der Tschechischen Republik. Im frisch gewienerten Flur der Station 2 zieht dem Besucher ein Gemisch aus Medikamenten und Bohnerwachs in die Nase. Vladimír vertreibt seine Langeweile durch Kartenlegen. Sein Körper ist knochig, ausgemergelt, seine blassen Hände sind porös. Ganz hinten in der Ecke wartet Helena, eine 49jährige Prostituierte, auf die nächste Untersuchung. Neben ihr sitzt Lukáš. Die drei gehören zu den 35 bekannten Aidskranken in der Tschechischen Republik. 23 Menschen sind dem perfiden Virus bisher zum Opfer gefallen.

Die offzielle Statistik der ČR weist 149 HIV-Positive aus. „Das mag sich für Westler zwar sehr wenig anhören“, sagt Stationsarzt Dr. Jiří Špála, „doch die Zahlen werden auch hier exorbitant in die Höhe schnellen. Hinter jedem HIV-Positiven stehen mindestens zehn weitere, nicht registrierte Fälle.“ Im tschechischen Gesundheitsministerium sieht man das nicht anders und zitiert die Worte von Michael Merson, dem Leiter des Aids-Programms der Weltgesundheitsorganisation WHO: In mitteleuropäischen Ländern kann schnell eine Aids-Epidemie wie in Afrika und Asien eintreten.

Die Mitteilung, HIV-positiv zu sein, verändert das Leben auf dramatische Weise. „Die Angst verarbeite ich wohl nachts. Ich träume wirres Zeug, meistens sind das sehr traurige Geschichten“, sagt Lukáš. „Seitdem ich AZT nehme, ist mir der Tod plötzlich ganz nah.“ Als die Eltern des 25jährigen Schmuckherstellers 1990 von seiner Krankheit und gleichzeitig seiner Vorliebe für Männer hörten, setzten sie ihn vor die Tür. Er wohnte in einem nordböhmischen Dorf, wo die Krankheit noch als eine Art „Fluch“ angesehen wird, erzählt Lukáš. Stefan, sein ehemaliger Freund, ist bereits im Bulovka gestorben.

Ein Großteil der HIV-Positiven in der ČR ist homosexuell. Nach Ansicht vieler Ärzte wird sich der Virus in den nächsten Jahren jedoch auf alle Bevölkerungsgruppen verteilen. Dr. Antonín Brzek vom Institut für Sexologie der Prager Karls-Universität geht davon aus, daß beispielsweise Prostituierte von HIV ähnlich betroffen sein werden wie von der Syphillis.

Düstere Aussichten: In den letzten sechs Jahren ist die Zahl tschechischer Prostituierter, die Syphillis haben, um 5.700 Prozent angestiegen. „Der Sex-Tourismus ist eine große Gefahr“, sagt Brzek weiter. Der Ordinarius nennt Hochburgen wie das nordböhmische Grenzstädtchen Dubi, wo sich das wohl größte Freilicht-Bordell in der Tschechischen Republik befindet: Dort locken Frauen aus allen Ländern Osteuropas die Kundschaft ins Grüne, seitdem die tschechisch-deutsche Grenze 1989 geöffnet wurde.

Und natürlich ist auch Prag ein Eldorado für käuflichen Sex. Etwa 30.000 Prostituierte soll es in der Goldenen Stadt geben, zwei Drittel davon sind jünger als 18 Jahre. Ganz genau kann die Zahl allerdings niemand nennen. Gustav Walter, Referent im Gesundheitsministerium sagt, daß selbst viele Ehefrauen der Gelegenheitsprostitution in Massagesalons oder auf der Straße nachgehen.

„Ausländer legen oft noch einen Schein drauf, um ohne Kondom zu bumsen.“ Helena spricht aus Erfahrung. Gerade mit den Touristen, erzählt die Prostituierte im Bulovka, seien gute Geschäfte zu machen. Insgesamt reisten 1992 etwa 83 Millionen Menschen in die ČR. Wo und wann sie sich angesteckt hat, weiß Helena nicht – einen Teil ihrer Erinnerungen hat sie im Alkohol ertränkt.

Die männliche Prostitution blüht nicht minder. Kontaktschuppen Nummer eins ist der Prager „American Club“. Vor dem Eingang in der Petrinska 5 stehen besonders viele deutsche Wagen. Innen wabert Nebel über die Tanzfläche, „In the air tonight“ ballert aus den Boxen. Junge Ostleiber schmiegen sich an ältere Westkörper, wie dressierte Pudel trotten tschechische Knaben deutschen, amerikanischen und holländischen Eroberern hinterher.

An der Theke steht Petr: bleichgesichtig, braunäugig, stirnbandgeschmückt, auf Kundensuche. „Jedes zweite Wochenende fahre ich mit dem Zug von Franzensbad nach Prag“, sagt er, „schwul bin ich nicht, das ist eine rein finanzielle Sache.“ Für harte Devisen nehme er gern' mal einen reichen Bruder zwischen Arme und Beine. Kondome? „Das ist hier nicht üblich“, sagt der 18jährige Hotelfachschüler. Wenig später geht er hinaus, einen Mitdreißiger im Arm.

In der tschechischen Republik werden jährlich acht Millionen Kondome verkauft. Und das heißt: Jeder Bürger und jede Bürgerin schützen sich in 52 Wochen durchschnittlich etwa einmal. „Zu Zeiten des Sozialismus galt das Präservativ noch als Symbol für Sex, heute ist es in den Köpfen der Menschen ein Symbol für Antisex“, erklärt Antonín Brzek. „Hinzu kommt, daß die Tschechen hier im Land noch keine schlechten Vorbilder haben, was Aids betrifft.“ Auch das ist für den Arzt ein Grund, warum sich so wenig Tschechen auf HIV testen lassen.

Mit dem Test werden zudem schlechte Erinnerungen verbunden, da unter kommunistischer Federführung sämtliche Daten der getesteten HIV-Positiven weitergegeben wurden. Anfang 1988 gingen Bilder eines aufsehenerregenden Prozesses durch die Medien: Ein infizierter Homosexueller sollte sechs Personen bewußt angesteckt haben. Justizbeamte und Polizei erschienen mit Mundschutz und Handschuhen zur Verhandlung. Der Angeklagte durfte aus „Sicherheitsgründen“ nicht einmal die Wand des Gerichtssaals berühren.

Es ist eine Ironie des Schicksals, wenn Vladimír, Opfer der fatalen, bewußt inszenierten Hetzkampagne, heute von sich behaupten kann, „berühmt“ zu sein. „Teilweise kannte ich die angeblich Infizierten nicht einmal. Der Staat schüttete seinen Haß auf Schwule und die unheilvolle Krankheit auf meine Schultern aus. Die Presse schrieb üble Dinge. Ich würde nur noch 32 Kilo wiegen und hätte keine Haare mehr auf dem Kopf. Es war grausam.“ Ein Jahr saß der 30jährige Todgeweihte hinter Gittern. Anschließend wurde er für 24 Monate in Bulovka zwangshospitalisiert. „Auf die Ärzte“, sagt Vladimír, „lasse ich nichts kommen.“ Er ist froh, daß man in Prag inzwischen eine weitgehend gesunde Einstellung zu der Krankheit gefunden habe.

Erst seit 1990 sind HIV-Tests anonym. Jiří Špála sagt: „Das Angebot nehmen in der Regel nur sehr verantwortungsvolle Menschen wahr, die wirklich Gefährdeten finden sich oft erst im Endstadium hier ein.“ Etwa 80 Patienten werden in Bulovka stationär, teilstationär oder ambulant mit AZT, DDI und Vitamin-Ampullen versorgt. Allein die Medikamente kosteten den Staat im vergangenen Jahr 16 Millionen Kronen - rund 900.000 Mark. „Wenn die Uhr bei uns zwölf schlägt, werden die Medikamente kaum noch zu zahlen sein“, befürchtet Špála.

Ähnliche Schwierigkeiten sehen auch Politiker von Regierung und Opposition auf die Tschechische Republik zukommen. Nach Informationen der Tageszeitung Lidové Noviny wollen sie die Prostitution nun gesetzlich regeln. Der Vorschlag sieht vor, daß die Prostituierten monatlich 1.500 Kronen an eine Versicherung entrichten. Darüberhinaus sollen sie „angesichts des hochgradig riskanten Berufes“ für eine sechsmonatige Lizenz bis zu 10.000 Kronen zahlen. Bordellbesitzer müssen einmalig 150.000 Kronen berappen. Mit den eingenommenen Geldern will man künftigen Krankheiten beikommen.

Die Staatsanwaltschaft aber winkt noch ab: Diskretion und Anonymität seien nicht gewahrt. Eine gesetzliche Regelung wird also noch auf sich warten lassen. Aus diesem Grund dürften sich auch Spekulationen und Befürchtungen in Szenekreisen erübrigen, denen zufolge am Hauptbahnhof der Moldau-Metropole ein Caravan aufgestellt werden soll, in dem sich gefährdete Gruppen einem Zwangstest zu unterziehen hätten.

„Viel zu wenig Geld wird in Präventionsmaßnahmen investiert“, klagt Dr. Hana Malinová. Die Soziologin hat vor einigen Monaten die Beratungsstelle „Roskos bez Rizika“ (Wollust ohne Risiko) ins Leben gerufen. Neben ihrer Arbeit an der psychologischen Fakultät der Karls-Universität schult sie nun Streetworker und informiert Prostituierte über den tödlichen Virus. „80 Prozent meiner Arbeitzeit gehen im Moment für Anfragen nach finanzieller Unterstützung drauf“, sagt Hana Malinová. „Ein wenig Geld erhalten wir von westlichen Sponsoren.“

Öffentliche Aufklärungskampagnen hinken in Tschechien denen westeuropäischer Länder arg hinterher. Manchmal sind warnende Spots im Radio zu hören, allzu selten befassen sich tschechische Tageszeitungen mit der Thematik. Inzwischen greifen Fachärzte selbst zur Feder: Regelmäßige Hintergrundinformationen liefert die Zeitschrift des Schwulenverbandes SOHO. Da werden beispielsweise Alternativen zur Behandlung mit AZT oder psychologische Aspekte der Krankheit beleuchtet.

Gerade die psychologische Betreuung hält Jiří Špála für wichtig. „Die Aidskranken sterben hier, das gibt dem Haus natürlich ein bestimmtes Image“, sagt er. Ab und zu kommen eine Psychologin und ein Franziskanerpriester. Sie versuchen den Kranken der 16-Betten-Station Ängste zu nehmen, ihnen Trost zu spenden, sie zu begleiten.

Das Interieur der Station Zwei aber ist trostlos: In den kargen Zimmern stehen drei Betten, zwei Stühle und ein Tisch. Keine Farben, kein Bild, keine Erinnerung. Lukáš Wunsch: „Einmal morgens aufwachen und völlig gesund sein.“