„Sexuelle Gewalt ist Teil der Folter“

■ In der Türkei melden sich auch geschlagene Frauen immer häufiger beim Menschenrechtsverein „Insan Haklari Dernegi“

Yelda ist Mitarbeiterin des türkischen Menschenrechtsvereins „Insan Haklari Dernegi“ in Istanbul und der Menschenrechtsstiftung „Türiye Insan Haklari Vakfi“. Der Menschenrechtsverein entstand 1986, initiiert von den Angehörigen von Folteropfern. Die Stiftung wurde kurze Zeit darauf mit dem Ziel gegründet, Rehabilitationszentren für Folteropfer aufzubauen. Heute existieren unter dem Dach der Stiftung dezentrale Beratungsstellen für Folteropfer in Istanbul, Ankarra und Izmir.

Yelda benutzt nur ihren Vornamen, da sie es ablehnt, den Namen ihres Vaters oder den ihres Ex- Mannes zu tragen. Feministinnen in der Türkei benutzen immer häufiger nur ihren Vornamen, denn mit ihm verbinden sie ihre Identität als Frau. Yelda dazu: „Der Nachname weist mich nur als die Tochter eines Mannes oder als Ehefrau eines Mannes aus.“

taz: Welche Menschenrechtsverletzungen treffen in der Türkei explizit Frauen?

Yelda: Als Mitarbeiterin des Menschenrechtsvereins beobachte ich in erster Linie die Folterpraxis im Polizeigewahrsam. Frauen, die gefoltert werden, sind häufig schlimmer dran als Männer. Sexuelle Gewalt ist beispielsweise eine übliche Folterpraktik. Dazu gehören auch Elektroschocks an den Genitalien oder den Brustwarzen, mit denen auch Männer gefoltert werden.

Doch es existieren auch Folterpraktiken, die nur Frauen treffen. Durchsuchungen haben bei Frauen zum Beispiel selten den Charakter von Leibesvisitationen, sondern viel eher den von sexueller Belästigung. Frauen wird sehr oft damit gedroht, sie zu vergewaltigen, nicht selten werden sie in der Folter Opfer sexueller Gewalt.

Spezifisch für die Türkei ist außerdem, daß Frauen oft gefragt werden, ob sie verheiratet oder ledig sind. Ledigen Frauen wird mit einer Kontrolle ihrer Jungfräulichkeit gedroht. Sind sie ledig, aber keine Jungfrau mehr, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß diese Frauen in der Haft vergewaltigt werden. Sie gelten als „Nutten“, sind sozusagen Freiwild. Und auch die Tatsache, daß Frauen schwanger sein können, wird in der Folter ausgenutzt.

In welcher Weise?

Im August 1992 wurde beispielsweise Gülay Tan in Ankarra verhaftet. Sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Man legte sie eine Zeitlang auf Eisblöcke, verabreichte ihr dann Elektroschocks und dann sprang ein Polizist auf ihren Bauch. Schwangeren Frauen wird damit gedroht, daß sie ihr Kind verlieren, wenn sie nicht „aussagen“. Wenn sie zum Beispiel nicht den Aufenthaltsort ihres Mannes preisgeben, der gesucht wird.

Wie berichtet die türkische Presse? Gibt es auch dort Unterschiede?

Sowohl Männer als auch Frauen werden Opfer von Sicherheitskräften, die jemanden auf offener Straße niederschießen, ihn, wie wir sagen, „außergerichtlich hinrichten“. Gängige Sprachregelung in türkischen Zeitungen ist in so einem Fall, jemand wurde „tot festgenommen“. Auch die Presse diskriminiert Frauen. Im letzten Jahr wurde Esma Polat, die ein Jahr zuvor in Polizeigewahrsam gefoltert und vergewaltigt worden war, bei einer bewaffneten Auseinandersetzung „tot festgenommen“, also auf offener Straße von Sicherheitskräften erschossen. Esma Polat gehörte einer militanten politischen Organisation an. In den Zeitungen stand anschließend, sie sei nur Mitglied dieser Organisation geworden, da sie sonst keinen Mann abgekriegt hätte. Dem ersten Mann, dem sie in der Organisation begegnet sei, habe sie sich an den Hals geworfen. So würde die Presse nie über einen Mann aus einer militanten Organisation berichten.

Wie reagiert der Menschenrechtsverein auf die spezifische Situation gefolterter Frauen?

In einzelnen Fällen protestiert man gegen die Vergewaltigung einer Frau, die bekannt wird. Doch die männliche Sicht dominiert. Das heißt, Kampagnen gegen „außergerichtliche Hinrichtungen“ oder die Unterdrückung in Kurdistan stehen auf der Tagesordnung. Frauenspezifische Kampagnen werden als Luxus abgetan. Das Klima zwischen Feministinnen und linken Männern ist bei uns sehr angespannt.

Wird häusliche Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung thematisiert?

Eine neue Entwicklung im Menschenrechtsverein in Istanbul ist, daß sich mehr und mehr Frauen melden, die von ihren Männern geschlagen wurden. In Istanbul gibt es zwei Frauenhäuser für geschlagene Frauen, die hoffnungslos überfüllt sind. Der feministische Verein „Lila Dach“ bietet geschlagenen Frauen psychologische und rechtliche Beratung. Seitdem sich Frauen bei uns melden, versucht der Menschenrechtsverein Unterkünfte für sie zu finden.

Das heißt, häusliche Gewalt gegen Frauen wird als Menschenrechtsverletzung angesehen?

Feministinnen innerhalb des Menschenrechtsvereins versuchen immer wieder, diese Diskussion anzuregen. Doch die Männer reagieren darauf regelmäßig ablehnend. Als zum Beispiel bekannt wurde, daß ein hoher Gewerkschafter seine Ehefrau verprügelt, wehrten männliche Mitarbeiter eine Diskussion mit dem Argument ab, angesichts der Situation in Kurdistan sei es nicht an der Zeit, einen solchen Einzelfall zu dramatisieren.

Sexuelle Gewalt ist in der türkischen Öffentlichkeit ein Tabu. Das heißt, vermutlich sprechen auch Folteropfer, die vergewaltigt wurden, nur ungern darüber.

Gerade im Hinblick auf die Massenvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina wurde in der türkischen Presse viel über sexuelle Gewalt geschrieben. Feministinnen versuchten an diese Öffentlichkeit anzuknüpfen und darauf aufmerksam zu machen, daß sexuelle Gewalt auch in der Türkei zur Alltagsrealität von Frauen gehört.

Bei unserer Arbeit mit gefolterten Frauen und auch Männern bleibt das Thema sexuelle Gewalt dennoch äußerst schwierig. Viele kommen zu uns und berichten in ihrer ersten Erregung davon, daß sie sexuell mißhandelt wurden. Wenn wir sie dann zu einer Beratungsstelle schicken, sprechen die meisten allerdings im folgenden Beratungsgespräch nicht mehr über die sexuelle Folter. Über alles andere, bloß nicht über die sexuelle Gewalt.

Interview: flo