Ukraine im Schatten der Rußlandpolitik

■ Auch Kohl erreicht in Kiew keine Ratifizierung des Start-Abkommens / Furcht vor russischem Großmachtstreben

Warschau (taz) – Westliche Politiker geben sich in Kiew derzeit die Klinke in die Hand. Ganz gleich, ob es sich dabei um den US- Außenminister, den deutschen Bundeskanzler oder andere Politiker handelt, allen sind zwei Dinge gemeinsam: Sie kommen meist über Moskau nach Kiew, und sie dringen darauf, daß die Ukraine den Vertrag über nukleare Abrüstung ratifiziert. Auch Bundeskanzler Kohl, der am Mittwoch in Kiew Gespräche mit der ukrainischen Regierung aufgenommen hat, konnte da keinen Erfolg melden. Die ukrainische Regierung habe „weitere Bemühungen“ um eine Reduzierung ihrer atomaren Langstreckenwaffen und eine Ratifizierung des Start-Abkommens über die Reduzierung von Atomwaffen zugesagt. Kohls Bemühungen waren also sowenig von Erfolg gekrönt wie die früherer Staatsgäste Kiews auch – und das ist nicht weiter erstaunlich: Die Atomwaffen sind zur Zeit praktisch der einzige Trumpf, den das seit zwei Jahren unabhängige Land außenpolitisch noch ausspielen kann. Kein Wunder also, daß das ukrainische Parlament die Ratifizierung inzwischen erneut auf den Herbst verschoben hat. Vorgesehen war sie schon für Ende 92.

Radikale Nationalisten seien es, die in Kiew die Abrüstung blockieren, heißt es häufig in der westlichen Presse, und die Verzögerung des Abrüstungsprozesses sei kein geeignetes Mittel, dem Westen Finanzhilfen abzutrotzen. Aus ukrainischer Sicht verhält es sich umgekehrt: Dort weiß man, daß das Land für den Westen völlig bedeutungslos wird, wenn es nicht einmal mehr über den Machtfaktor Atomwaffen verfügt. Es ist allemal angenehmer, negativ aufzufallen, als gar nicht. „Woher weiß der Westen, daß Rußland die Waffen vernichten wird, wenn wir sie erst einmal abgegeben haben?“, fragen auch Parlamentarier, die keine „radikalen Nationalisten“ sind. Sie fürchten, daß Rußland Kiew gegenüber erst recht als Großmacht auftreten wird, wenn die Ukraine erst einmal abgerüstet hat. Grundlos sind diese Ängste nicht.

Nach wie vor schwelt der russisch-ukrainische Streit um die Krim und um die Zukunft der Schwarzmeerflotte. Zur gleichen Zeit, als US-Außenminister Les Aspin Krawtschuk zur Abrüstung mahnte, zogen in Sewastopol 200 Kriegsschiffe der russischen Seekriegsflotte auf. Gleichzeitig machen sich überall in der Ukraine zentrifugale Tendenzen bemerkbar: In der Bukowina, wo es prorumänische Tendenzen gibt, ebenso wie am Don, wo die Bevölkerung großenteils russifiziert ist. An russischen Drohgebärden hat es seit der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung nicht gemangelt.

Wirtschaftlich ist die Ukraine von Rußland abhängig, ihre Wirtschaft ist noch maroder als die russische. Doch nach Moskau fließen westliche Dollarmilliarden, nach Kiew nicht. Im Westen hält man es offenbar für richtig, daß Moskau eine Großmacht mit Atomarsenal bleibt. Wenn nun westliche Politiker Moskau Finanzhilfe antragen und nur nach Kiew kommen, um dort zur Abrüstung zu mahnen, heißt das für die ukrainischen Politiker: Der Westen hat Partei für Rußland ergriffen.

Widerstände gegen die Start- Ratifizierung gab es in Kiew nicht immer. Sie entstanden, als die Ukrainepolitik für die USA und Westeuropa zur Funktion der Beziehungen zu Moskau zu werden drohte. Die demokratische Opposition war – auch wegen Tschernobyl – noch vor wenigen Jahren für eine atomwaffenfreie, neutrale, westorientierte Ukraine. Zwischen Lviv und Kiew fühlt man sich besonders von den USA alleingelassen. Die logische Forderung, Start erst zu ratifizieren, wenn von den USA und Rußland die territoriale Integrität der Ukraine (einschließlich der Krim) anerkannt ist, hat bisher kaum ein Echo gefunden. Klaus Bachmann