Spiel ohne Grenzen?

Als das Deutsch-polnische Jugendorchester noch sozialistisch war, reisten die jungen MusikerInnen ausschließlich durch Osteuropa. Jetzt überqueren sie das erstemal die Alpen und gehen in Italien auf Tournee  ■ Von Michaela Namuth

In dem Bus, der von Düsseldorf auf dem Weg nach Varese ist, sitzt das neue Europa. Das gedämpfte Sprachengewirr aus Deutsch, Polnisch und Italienisch wird übertönt durch das Geschrei der Getreuen von Kevin Costner, der auf zwei Bildschirmen über den Köpfen der Reisenden als Robin Hood den Reichen nimmt und den Armen gibt. Doch die 40 jungen Musikerinnen und Musiker des Deutsch- Polnischen Jugendorchesters schauen aus dem Fenster: Sie warten auf den Gotthard-Tunnel.

Die ostdeutschen und polnischen Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren überqueren das erstmal die Alpen. Mit ihrer Musik sollen sie in den norditalienischen Städten Varese, Sesto S. Giovanni und Modena zeigen, daß Europa größer geworden ist. „Musik ist grenzenlos“, heißt es in der Broschüre „Buongiorno Italia“, die die Geschichte des Orchesters dokumentiert. Schon 1973 haben sich die Musikschulen der Städte Zielona Gora (Grünberg) und Frankfurt an der Oder zu einer kontinuierlichen Zusammenarbeit entschlossen, die bislang allen politischen Turbulenzen getrotzt hat.

Früher, als ihre beiden Länder noch sozialistisch waren, reisten die Orchestermitglieder durch die DDR, Polen und die UdSSR. Auch im vereinigten Deutschland konnte das Jugendorchester bei feierlichen Anlässen inzwischen Erfolge verbuchen. Für die 13jährige Friederike Krüger bedeutet Italien aber viel mehr: „Wir kommen in das Land der Kultur und der Musik. Da können wir uns keine Schnitzer leisten.“ Sie erhofft sich ein musikbegeistertes Publikum. Die Deutschen sitzen ganz hinten im Bus, dort, wo am meisten gekichert wird. Erst waren sie sauer, weil die Polen „ihre“ Plätze besetzt haben. Aber wer möchte sich schon die Fahrt nach Italien verderben lassen.

Vorne bei den Polen geht es ruhiger zu. Die Stimme der Übersetzerin scheint Jacek Skiba aus einem Tagtraum zu reißen. Was er sich von Italien erwartet? Die alte europäische Kultur natürlich, die die großen Künstler der Renaissance hervorgebracht hat. Am liebsten aber würde der junge Geiger mit den langen schwarzen Haaren und dem gesenkten Blick Rom sehen. Er ist stolz, daß der Papst ein Pole ist. Sein Nachbar, der 19jährige Maciej Huszcza, stimmt ihm einsilbig zu. Da bricht ein wütender Redefluß über die beiden herein. Beate Barszcowska wünscht dem Papst nichts Gutes. Sie hält es für gefährlich, daß die Kirche in Polen wieder zu einer politischen Macht geworden ist: „Was die Polen in der Familie und im Bett machen, geht die Kirche nichts an.“ Keiner stimmt ihr zu.

Die 18jährige Barszcowska hat die Rolle der Orchesterrebellin übernommen. Sie spielt das erste Cello im Kammerorchester und kann es sich leisten, immer zu spät zu kommen. Die Rügen des deutschen Musiklehrers quittiert sie patzig mit einem „Jawoll, deutsch pünktlich“. Doch bei dem ersten Auftritt in Varese verwandelt sich die Aufsässige in eine brave Cellistin. Es bleibt zwar das spöttische Grinsen, doch die Augen starren gebannt auf die Bewegungen der Dirigenten, dem Deutschen und dem Polen, die abwechselnd den Stock in die Hand nehmen.

Im „Napoleonischen Saal“ der Villa Ponti in der norditalienischen Kleinstadt ebbt der Applaus nur langsam ab. Anderthalb Stunden haben die jungen Musiker und Musikerinnen gezeigt, was sie können: Stücke von Händel, Bach und Mozart, aber auch moderne Kompositionen von Bartok, Farkas und Gorecki. Das Publikum ist bezaubert von der Jugend der Künstler – Hochrufe, die bambini werden gefeiert. Erst nach zwei Zugaben werden die erschöpften Wunderkinder von der Bühne gelassen. Vor der Villa schüttelt ein Freund der klassischen Musik auch die Pranke des verdutzten Busfahrers: „Bravi, bravi!“ Einmal mehr bewahrheitet sich, was wir Deutschen schon lange wissen: Die Italiener sind begeisterungsfähig, selbst wenn sie aus Varese stammen.

Varese ist eine wohlhabende Stadt in der Lombardei, die sich eher an der angrenzenden Schweiz als an der verachteten Regierung in Rom orientiert. Auf der Piazza del Podesta wurde hier vor zehn Jahren die rechtsorientierte Populistenpartei Lega Nord gegründet. Den leghisti wäre es am liebsten, wenn sich die Regionen bis Florenz von dem südlichen Teil des Landes abspalten würden. Auf vielen Ortsschildern in der Gegend um Varese haben Anhänger der „Lombardisten“ den Schriftzug „Repubblica d'Italia“ bereits mit „Repubblica del Nord“ überklebt. Die Lega stellt in der Stadt den Bürgermeister und wird bei ihren Entscheidungen von der Linkspartei PDS gestützt.

In dieser – aus deutsch-romantischer Sicht – untypischen italienischen Kleinstadt, deren Prunkbauten hauptsächlich aus der Mussolini-Zeit stammen, ist vor zehn Jahren der „Deutsch-Italienische Verein“ gegründet worden. Nach den Vereinsstatuten ist das Ziel der Vereinigung die Förderung des politischen und kulturellen Dialogs zwischen den beiden Nachbarländern. Der Verein wird vor allem von Mitgliedern der PDS und der Gewerkschaft CGIL, und auf deutscher Seite von SPD und DGB getragen. Eines der Hauptanliegen des Vereins ist die schulische Förderung von italienischen Immigrantenkindern, die aufgrund sprachlicher Probleme oft in die Sonderschule abgeschoben werden.

Sprachhindernisse hemmen auch die Entstehung des großen, neuen Europa, das sich alle so sehnlichst herbeiwünschen: Deutsche, Polen und Italiener. Doch – so der Gedanke des Deutsch-Italienischen Vereins und der Hans- Böckler-Stiftung, die die Konzertreise organisiert und finanziert haben – wo es Sprachbarrieren gibt, hilft die Musik vielleicht weiter. Auch für die deutschen und polnischen Jugendlichen ist das gemeinsame Musizieren die einzige Sprache, die sie miteinander verbindet. Keiner beherrscht die Sprache des anderen so gut, daß ungezwungenes Plaudern möglich wäre. Die meisten von ihnen sprechen zwar englisch, aber nicht miteinander.

Auch vor dem Auftritt in Sesto S. Giovanni, einer Arbeitertrabantenstadt vor Mailand, bleiben Polen und Deutsche in den Umkleideräumen des Teatro Rondinella unter sich. Die deutschen Mädchen verdrehen die Augen, als eine der polnischen Solistinnen bei der Generalprobe mal wieder nicht aufzufinden ist. Andrea Malz hat da schon ihre Erfahrungen gemacht: „Die Polen gehen während der Proben einfach zum Haarewaschen. Das sollten wir uns mal erlauben, aber die halten sich eben für die größeren Talente.“ Manchmal finden sie die polnischen Mädchen arrogant. Bei den Probetreffen bringen sie ihnen aber trotzdem Zeitungsausschnitte von Elton John und Guns 'n' Roses mit. Die Ikonen der Rock-Kultur sind in Polen Mangelware, denn in den Feuilletons wird der „alten“ Kultur gehuldigt.

Abends im Hotel geigen die Polen bis Mitternacht, aus den Zimmer der Deutschen dringt gedämpftes Gelächter. Für die Jugendlichen aus Frankfurt spielt neben der Musik auch die Abschlußnote in Mathe und Englisch eine Rolle. Der Musikunterricht endet für sie häufig mit dem Abitur, dann kommen sie nur noch zu den Orchesterproben. Die Lehrer der Musikschule in Grünberg aber trimmen ihre Eleven für das Konservatorium. Musik bedeutet für die jungen Polen auch Beruf und Berufung: auf ihrer Schule dreht sich alles um das Instrument, den Gesang und die Kultur. Zu Italien fällt ihnen – neben dem Papst – Michelangelo ein, während die jungen Deutschen eher an Pizza und Mafia denken. Polen, Posen, Pathos – das paßt zusammen, bemerkt Enzensberger in seinen Wahrnehmungen über Europa. Die jungen Künstler sind selbstbewußt. Für das deutsche Ohr mag es aber auch pathetisch klingen, wenn die 17jährige Olga Ksenicz bestimmt: „Wir machen Musik, wir bauen Kultur.“

Der letzte Auftritt des Orchesters findet am 18. April statt. Bei der Ankunft in Modena ist das mittelalterliche centro storico menschenleer. Es ist Mttagszeit, der Himmel ohne Wolken.. Giuseppe Vaccari, Dezernent für Jugendpolitik, erzählt von den Problemen seiner Stadt, während die Orchestermitglieder über die pizze, tramezzini und dolci herfallen, die in den mittelalterlichen Gemäuern des Rathauses für sie angerichtet wurden. Auch die Barszcowska sitzt auf einem Samtsofa unter dem Renaissanceportrait einer dunkelgelockten Edelfrau, nippt an einem Glas prosecco und schaut versöhnlich in die Runde. So hat sie sich Italien eigentlich vorgestellt.

Als Vaccari ankündigt, daß das Konzert in einer Barockkirche stattfinden wird, erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt. Während des Konzerts bleiben die Pforten von San Carlo geöffnet. Die hinteren Bänke füllen sich nach und nach mit Passanten, die sich nach dem Urnengang von den klassischen Tönen in das Gotteshaus locken lassen. „Es ist doch etwas Besonderes“, flüstert eine weißhaarige Signora ergriffen, „etwas ganz Besonderes, daß Jugendliche aus zwei Ländern gemeinsam musizieren.“

Am Ende des letzten Auftritts sind alle hundemüde. Eine der Polinnen muß sich im Bus auf dem Weg zurück ins Hotel nach Varese übergeben. Die italienische Dolmetscherin rät ihr, sich im Hotel einen Kamillentee kommen zu lassen. Das junge Mädchen schweigt. Eine Tasse Tee kostet etwa drei Mark, das sind in Zielona Gora sechs Laib Brot. In der Stadt, die im grünen polnischen Oderflußgebiet liegt, beträgt der Durchschnittsverdienst 250 Mark. Auch im neuen Europa ist der Zloty nichts wert. Das bekommen die polnischen Jugendlichen zu spüren, wenn sie mit den Deutschen unterwegs sind, die sich zumindest kleine Souvenirwünsche erfüllen können.

Kein polnisches Orchestermitglied kann einen pekuniären Beitrag zu den Konzertreisen leisten. Ohne die harte Mark der Deutschen könnten die Polen nicht reisen. Ohne die polnischen Geigen aber wäre auch für die ostdeutschen Jugendlichen das Land hinter den Alpen ein fernes geblieben. Die Marktwirtschaft schafft in den jungen Ländern des großen Europa neue Regeln, neue Rollen. Da müssen auch die Jugendlichen mitspielen, denn die sozialistischen Geschwisterbande haben sich längst gelöst. Sie musizieren gemeinsam, wenn sie Gönner finden. Beim Applaus lächeln sie sich zu, dann geht es wieder zruück in die großeuropäische Wirklichkeit. Oder wie es die 17jährige Olga Ksenicz ausdrückt: „Wir spielen zusammen, aber wir leben nicht zusammen.“