Eine epochale Arbeit am „Und“

Ulrich Becks Theorie reflexiver Modernisierung / Jenseits vom „Entweder-Oder“  ■ Von Martin Bauer

Ulrich Beck ist bekanntlich kein Logiker, sondern als Lehrstuhlinhaber für Soziologie in München tätig. Gleichwohl hat er sich in seiner jüngsten Veröffentlichung von einem Und betitelten Aufsatz des Malers Wassily Kandinsky zu einem Ausflug in die wirklichkeitslose Welt der logischen Formen verführen lassen. Die einleitende These seines Buches lautet nämlich, daß innerhalb der Moderne zwei Epochen zu unterscheiden seien, das Zeitalter des Und vom Zeitalter des Entweder-oder.

Nun ist unter logischem Gesichtspunkt ein Satz, der zwei Aussagen durch das Wort „Und“ verknüpft, eine Konjunktion, während es sich bei einem Satz, der zwei Aussagen durch das „Entweder-oder“ entgegensetzt, um eine Disjunktion handelt. Beck unterscheidet gewissermaßen eine konjunktive von einer disjunktiven Moderne – und vertraut überraschenderweise darauf, daß sich historische wie soziale Wirklichkeiten tatsächlich durch formale Prädikate definieren lassen.

Doch anders als der Künstler Kandinsky, der im 19. Jahrhundert die Epoche des Entweder-oder erkannte, an die sich das 20. Jahrhundert als Epoche des Und anschließt, steuert der Geschichtstheoretiker Beck eine veränderte Datierung an. Er mutmaßt, daß wir erst mit dem 21. Jahrhundert die ordnungslose, nicht mehr von disjunktiven Einteilungen strukturierte und mithin chaotische, neue Welt des Und betreten werden.

Zuvor steht allerdings – und damit kommt der Soziologe auf die Gegenwart wie auf die Renaissance des Politischen zu sprechen – eine Entscheidung an. Denn nach Becks Ermessen leben wir spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer, d.h. nach dem Ende des Kalten Krieges, in der Situation einer Koexistenz von disjunktiver und konjunktiver Moderne.

Diese verwickelte Situation bringt Becks Theorie als „reflexive Modernisierung“ auf den Begriff. Gemeint ist der folgenreiche und noch undurchdachte Grundsachverhalt, „daß industrielle Modernisierung in den hochentwickelten Ländern industrielle Modernisierung in ihren Rahmenbedingungen und Grundlagen verändert“. Diese Konfrontation der Moderne mit sich selbst stellt die für unsere geschichtliche Erfahrung grundlegende Verfügung von Kapitalismus, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und bewaffneter, nationaler Souveränität zur Disposition. Sie läßt die Formeln schal werden, in denen sich moderne Gesellschaften beschrieben und ihre politische Legitimität kodifiziert haben. Unversehens gerät das historische Apriori der industriellen Moderne in die Krise, und ihre Zeitgenossen werden panisch. Die Horizonte individueller wie kollektiver Daseinsvorsorge verdunkeln sich. So erzeugt die ins Spiegelstadium gezwungene Moderne „fundamentale Erschütterungen, die als Gegenmoderne entweder Wasser auf die Mühlen des Neonationalismus und Neofaschismus leiten (nämlich dann, wenn die Mehrheit im Verschwinden der Sicherheiten nach neu-alten Rigiditäten ruft und greift), oder aber im Gegenextrem zu einer Reformulierung der Ziele und Grundlagen westlicher Industriegesellschaften genutzt werden können“. Die Stunde der Politik schlägt.

Mithin steht die Gegenwart auch bei Beck, wie noch unlängst in Alain Touraines Kritik der Modernität, am Scheideweg. Hatte der französische Soziologe die Modernisierung als das Ineinander von Freisetzung und Reglementierung der Subjekte beschrieben, so identifiziert der deutsche Fachkollege den Prozeß als eine nach wie vor unabgeschlossene „Dialektik von Modernisierung und Gegenmodernisierung“. Keinen Zweifel lassen Becks Betrachtungen allerdings daran, wohin der Pfad der Tugend führen sollte. Er plädiert für die Utopie der konjunktiven Moderne, die sich – an Michel de Montaignes Skepsis geschult – den Unwägbarkeiten des Und stellt, weil sie der Verläßlichkeit eingespielter, in Wahrheit jedoch überlebter Stabilisierungen mißtraut.

Das Problem an Becks vielleicht sympathischem, jedenfalls aber unzeitgemäßem Mut zur Utopie ist der prekäre Status jenes Zeitalters des Und. Für Becks Begriffe ist es schon angebrochen, weil die reflexiv gewordene Modernisierung den Blick auf „andere Modernen“ freigibt.

Dennoch hat sich jene Moderne, die das Zeitalter des Entweder-oder unter Umständen auf- und ablöst, noch nicht in letztgültiger Gestalt formiert. So ist soziologische Aufklärung genötigt, ihre ganze analytische Kraft in eine „phänomenologische Zeitdiagnostik“ zu investieren, welche die Chancen des Und sondiert. Beck verwendet unendliche Mühen und sein ganzes schriftstellerisches Raffinement darauf, das Veralten der Moderne als eine Entwicklung zu veranschaulichen, die neue Dimensionen des Politischen erschließt. Ihm ist die Larmoyanz des kommenden Fin-de-siècle nicht weniger suspekt als der Quietismus postmoderner Zyniker. Gerade in der Implosion der Industriegesellschaft und der damit einhergehenden Verunsicherung der Lebensgeschichten, gerade in der Globalisierung des ökologischen Desasters und der damit einhergehenden Moralisierung einer Politik, die Selbstbehauptungsimperative der Gattung auf die Tagesordnung setzt, wittert er die Chancen für den notwendigen Angriff auf das Modell zweckrationaler Eindeutigkeit.

Logiker oder Soziologe?

Er will die Revolte gegen die Expertokratie und scheut sich nicht, gleichzeitig die Befreiung der Technik vom Joch der Nützlichkeit einzuklagen. Er leuchtet die Abgründe gentechnologischer Machtergreifungen aus und rückt die ökologische Demokratisierung gleichwohl in Griffnähe. Becks Phänomenologie der Jetztzeit absolviert ein immenses Pensum, doch verfliegt am Ende der Eindruck nicht, hier habe jemand Probleme gelöst, indem er Bedingungen benennt, unter denen sie sich nicht mehr stellen. Ein nun wahrlich elegantes Verfahren, das die Logik mit Erfolg praktiziert, weil sie – anders als die Soziologie – keine Wirklichkeitswissenschaft ist.

Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen – Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, 302 Seiten, ed Suhrkamp 1780, DM 20