Böhmische Millionärsdörfer

Kapitalist zu sein, ist in der Tschechischen Republik vom Stigma zum Traum geworden / Die Bevölkerung bekommt Nachhilfeunterricht im “Gewinnspiel Kapitalismus"  ■ Aus Prag Sabine Herre

Ein älterer Herr, mehr als nur wohlgenährt, die schwarze Melone auf dem Kopf, die dicke Zigarre im Mund, den silbernen Spazierstock in der Hand – so sah jahrzehntelang die Karikatur des Kapitalisten nicht nur in den kommunistischen Blättern der Tschechoslowakei aus. Doch auf besondere Resonanz stieß sie bei einer Bevölkerung, die sich nicht erst in den Jahren der realsozialistischen Herrschaft, sondern schon während der „kommunistischen Bewegung der Hussiten“ die „Gleichheit aller“ zum Ziel gesetzt hatte. Die Gleichheitsforderung, die oft nicht viel mehr war als der Wunsch nach „Gleichmacherei“, ermöglichte die Verteufelung des Bourgeois, der „ohne zu arbeiten, die Freuden des Lebens genoß“. In ihrem relativen Wohlstand waren sich alle Tschechen und Slowaken gleich, wer da ausscherte, hatte nicht nur mit dem Neid, sondern auch mit Verleumdungen der Nachbarn zu rechnen.

Der tradierten Kapitalistenkarikatur wird drei Jahre nach der „samtenen Revolution“ nun der Kampf angesagt. In einem durch zahlreiche Werbeanzeigen finanzierten Buch erzählen „Millionäre der Tschechischen Republik“ die Geschichte ihres Erfolgs und zeichnen ein ganz neues Bild des tschechischen Kapitalisten.

Zwar hat er Familie – wie könnte es im konservativen Böhmen anders sein –, zwar liebt er Fußball und Fischfang, doch (leider, leider) kann er sich all diesen Hobbys nicht widmen, denn er muß arbeiten. Von morgens um sechs bis abends um zehn, danach trinkt er mit Geschäftsfreunden noch eine gute Flasche Wein und unterhält sich übers Geschäft. Ständig denkt er sich etwas Neues aus; sein wichtigstes Ziel ist, den Kunden zufriedenzustellen.

All diese Menschen haben jedoch ein Problem: Der Neid der Nachbarn hindert sie am Genuß ihres Erfolges. Tatsächlich gibt es für den Neid eine reale Grundlage. Schließlich haben sich unzählige Kommunisten dank ihrer guten Kontakte zur staatlichen Industrie und zur Verwaltung in erfolgreiche Unternehmer wandeln können. Auch ein Teil der neuen Nomenklatura hat sich dank ihrer Beziehungen gute Ausgangsbedingungen für die Gründung eines eigenen Unternehmens geschaffen. Und: Nie waren die Einkommensunterschiede größer als in diesen Tagen. Während manch einer, der bei einem deutschen oder amerikanischen Unternehmen angestellt ist, bis zu zehntausend Mark im Monat verdient, erhalten LehrerInnen lediglich 5.000 Kronen (300 DM).

Diejenigen jedoch, die wie die „Kommunistische Partei Böhmens und Mährens“ aus dem Neid Kapital schlagen wollen, haben damit immer weniger Erfolg. Inzwischen haben die TschechInnen Blut gerochen. Die „Couponprivatisierung“ ermöglichte ihnen ganz offiziell, sich am großen „Gewinnspiel Kapitalismus“ zu beteiligen.

Vor einem Jahr war der Startschuß zur Privatisierung der großen Staatsbetriebe gefallen. Seit dem 24. Mai nun erhalten die „Diks“, jene BürgerInnen also, die sich zum Erwerb von Aktien für nahezu kostenlos verteilte Coupons entschieden haben, diese Aktien ausgehändigt. Und überall wird dem Dik erklärt, wie er die Aktien versilbern kann, wie er damit Handel treibt. In den Analysen der Zeitungen, in unzähligen Rundfunk- und Fernsehsendungen wird über die neue Prager Börse berichtet. Die Nation erhält Nachhilfestunden in Sachen „ertragreiche Geldanlage“.

Die Jungaktionäre diskutieren den Einfluß, den sie bei den anstehenden Vollversammlungen der privatisierten Staatsbetriebe auf die Führung dieser Unternehmen ausüben können. Propagiert wird eine nie dagewesene Wirtschaftsdemokratie: Tausende Kleinaktionäre werden das alte kommunistische Establishment das Fürchten lehren. Nur ganz am Rande und kaum hörbar warnen Fachleute: Eine so weite Streuung der Aktien sei in entwickelten Marktwirtschaften nicht üblich, darum müsse man nun hoffen, daß der Normalbürger seine Aktien möglichst schnell verkauft und es so zu einer Konzentration kommt.

Doch daran scheinen die TschechInnen vorläufig nicht zu denken. Hatten die Sozialdemokraten befürchtet, die BürgerInnen sähen lieber einen neuen Fernseher als ein Aktienpaket in ihrem Wohnzimmer, so machen erste Umfragen deutlich, daß der Couponhandel an der Börse vorläufig nicht ins Rollen kommen wird. Während die TschechInnen in den vergangenen zwanzig Jahren damit beschäftigt waren, Autoersatzteile aufzutreiben, studieren sie jetzt Börsenkurse. Zwar wird sich von der zu erwartenden Dividende keiner auch nur ein einziges Autoersatzteil kaufen können, den Traum vom Millionär hat jedoch inzwischen jeder. Und deshalb wird der Nachbar auch nicht über die nächsten Börsenaktionen informiert.