Nachschlag

■ Tina Engel las Tschechow in der Schaubühne

Kühl und dunkel ist es im Saal B der Schaubühne. Ein Holztisch mit zwei Folianten und einem Glas steht auf der Bühne, davor ein Stuhl, auf dem Tina Engel Platz nimmt. Ohne Umschweife beginnt sie zu lesen: „Der schwarze Mönch“, eine Erzählung von Anton Tschechow. Es ist die Geschichte eines hochbegabten und glücklichen Mannes, der sich als Quelle der Kraft und Inspiration einen Mönch halluziniert, mit dem er in ständiger Kommunikation steht. Dann aber bahnt sich der Zweifel seinen Weg in sein seliges Gemüt, er mißtraut seinem steten Seelenfrieden, begibt sich in psychiatrische Behandlung und wird sowohl von den Wahnvorstellungen als auch von der Lebensfreude geheilt. Eine zynische und traurige Geschichte, die in Rußland Ende des vorigen Jahrhunderts spielt. Sie enthält mehr an dramatischer Aktion als die meisten von Tschechows wundervollen und elegischen Dramen.

Tina Engel spielt im Sitzen alle Rollen. Jeder Figur gibt sie eine eigene stimmliche Nuance und manchen eine eigene Mimik, ohne dabei die Vortragsebene zu verlassen. Selten nur hebt sie einen Arm oder faßt sich an die Brust, und doch reißt das Schwarz der Bühne hinter ihr auf und öffnet sich den Bildern. Man sieht das Geschehen, gerade so, als würde sie nur die Regieanweisungen lesen. Der Mönch mit den listigen Augen, die verheulte, nervörse Tanja, Andrejuscha, der erst in Höhen schwebt und dann unsanft ins Mittelmaß fällt, der alte Vater – alle konturiert aus dem bloßen Wort, das Tina Engel allerdings nicht nur liest, sondern vorstellt. Zuweilen zieht sie einen sonst unbetonten Konsonanten und bringt damit eine ganze Haltung zum Ausdruck. Sie komponiert einen Rhythmus und beherrscht vor allem die Kunst der Pause. Die kleinen Ewigkeiten, in denen Worte noch nicht ausgesprochen sind, machen die Dramatik des Vortrages aus. Abgründe und Glückseligkeiten liegen darin, alles eben, was sich nicht sagen läßt.

Zuhören ist nicht einfach. Ein paar Sätze, in einem leeren Raum gesprochen, ermüden die Wahrnehmung schneller als ein mehrdimensionales Spektakel. Die Phantasie, die die meiste Zeit des Jahres faul in einer der hinteren Bewußtseinsecken herumlümmelt, gibt sich gemeinhin nur wenig Mühe, gesprochene Sätze zu bebildern. Mit sparsamen Mitteln und einem tragenden Text nimmt Tina Engel die Phantasie in die Pflicht und versetzt ihre wenigen ZuhörerInnen in den zeitlosen Zustand der reinen Vorstellung. Petra Kohse

Tina Engel liest noch einmal am 18. Juni um 20 Uhr.