Von Neurosenwinkel in die Mitte der Region

Serie: Umland-Utopien (vierte Folge): Rund um die Gemeinde Rosenwinkel haben ehemalige DDRler von Radwanderwegen über Kunstaktionen bis zum Alternativradio ein Geflecht von sozio-kulturellen Angeboten geschaffen  ■ Von Gerd Nowakowski

Wenn der rote Schienenbus am winzigkleinen Bahnhof von Rosenwinkel anhält, dann ist man nur scheinbar am Ende der Welt angelangt. Eine Gruppe von Figuren, roh zugesägt aus Eichenholz, erwarten den Fahrgast auf dem Bahnsteig. Die Gruppe von „Wartenden“, so der Titel, ist eine weitere Verrückung der Realität. Hat der Schienenbus seine Fahrt fortgesetzt, wird auf der anderen Bahndammseite ein gekreuzigter Jesus aus Schrott sichtbar, unverkennbar schwanger.

Zuvor schon waren vom Zug aus etliche monumentale Kunstwerke zu sehen, nahe dem Bahndamm in der offenen Landschaft stehend. Kurz vor dem Bahnhof Rosenwinkel zuckelte der Schienenbus an einem einzeln gelegenen Gehöft vorbei. An der Stirnseite eines Gebäudes ist ein Mann gemalt, der wie zur Begrüßung seinen Zylinder lüftet. Davor im Gras eine fünf Meter hohe Figur aus Schrott – unverkennbar eine Schäferin, ihr zu Füßen ein Stahl-Schaf. „Neurosenwinkel“ ist vorne am Tor zu lesen – die Ausdeutung bleibt dem Besucher vorbehalten. Das Gehöft, in der klaren Ordnung der untergegangenen DDR-Bürokratie „Ausbau 5“ betitelt, ist das Zentrum von „G.R.A.F.“ – der „Gemeinschaft Rosenwinkel im Ausbau Fünf“.

Die Scheune wird gerade mühselig restauriert und ist bis auf die Holzbalken skelettiert. „Arbeiten und nicht verzweifeln“ hat man als Motto neu in die Balken über dem Tor geschnitzt. Der Satz drückt das Verhältnis der Aktivisten zu ihrer Umwelt aus: arbeiten als lustvoller Akt und anarbeiten gegen die Gedankenlosigkeit der Wegwerf-Gesellschaft. Hier auf dem Hof sind die vielfältigen Aktivitäten zu erahnen. G.R.A.F. ist nicht ein Projekt, so erschließt sich dem Besucher bald, sondern es sind viele Projekte, die von hier ausgehen. Dieses Engagement hat dafür gesorgt, daß in der abgelegenen Gegend nordwestlich von Berlin ein Geflecht von soziokulturellen Angeboten existiert.

Begonnen hatte man 1986 als eine Wohngemeinschaft; eine Gruppe gemiedener und dennoch geduldeter Außenseiter: wahlweise suspekt wegen der zu kurzen oder der zu langen Haare der Bewohner. Das Treiben der Bewohner, wie der Bau der stählernen Schäferin, deren Hut aus verschrottetem Volksarmee-Material geformt wurde und einer Raketenspitze gleicht, erregten Mißfallen. Neben der ständigen Beobachtung holten die Stasi-Leute zur Abschreckung der Dörfler die Gruppe zum Verhör demonstrativ ins Gemeindehaus. Wer aus dem Dorf den Ausbau-Bewohnern half, dem drohten disziplinarische Strafen.

Kein Wunder, daß die Bewohner einen „Rucksack an Berührungsängsten hatten“, wie der 30jährige Olaf Stallmann erzählt. Der gelernte KFZ-Schlosser ist der offizielle Vereinsvorsitzende. Am Anfang des Projektes habe dennoch nicht ein strategisches Denken zur Einbindung der Bevölkerung gestanden, sondern einfach die „pure Langeweile“: mit sinnvollen Aktivitäten gegen die dörfliche Öde angehen. Mit Kinderfesten oder einem jährlichen Triathlon wurde die von der Stasi verhängte Isolation durchbrochen. Tradition hat nun bereits die „Bauernolympiade“ mit witzigen Wettbewerben wie einem Schubkarrenrennen und Wettmelken, die kürzlich zum vierten Male stattfand.

Drei Jahre nach dem Ende der DDR nisten Stare im Hut der großen Schäferin, und auch die Zielrichtung des Projekts hat sich geändert. Immer mehr hat man sich auf das Dorf und die Landschaft zubewegt, sowohl räumlich als auch inhaltlich. Jetzt wohnt nur noch eine Person fest im „Ausbau fünf“; alle anderen haben sich im Dorf Rosenwinkel niedergelassen. Nicht mehr die großen Veranstaltungen, zu denen in den vergangenen zwei Jahren bis zu vierhundert Menschen aus Berlin kamen, stehen im Mittelpunkt, sondern Entwicklungsprojekte für die Gegend. „Wir wollen den Charakter der Gegend erhalten“, sagt Olaf, „die Langsamkeit und Verschlafenheit ist doch unser Kapital für eine lebenswerte Zukunft.“

„Geld ersetzt keine Ideen“, umreißt Mario Achsnick das Kapital des Projekts. Ideen haben sie genug, Geld wenig. „Wir wollen beweisen, daß man mit geringen Mitteln etwas erreichen kann, wenn man sich den Kopf zerbricht“, sagt Olaf, während der Hund Egbert im Schatten unter dem Tisch lungert und das Ferkel Helmut (nicht nach unserem Kanzler, sondern dem Großvater von Olaf benannt) die Erde mit der Nase furcht. Als die Reichsbahn beabsichtigte, den Schienenbus stillzulegen, wurde das Projekt „Nebenstrecke“ geboren. Zwei Jahre hintereinander wurden für mehrere Wochen jeweils über zwanzig internationale KünstlerInnen eingeladen, die am Bahndamm ihre Skulpturen errichteten. Danach hatte die Reichsbahn keinen Mut mehr, die „Nebenstrecke 814“ stillzulegen.

Angelegt und ausgeschildert haben die Rosenwinkler im letzten Jahr einen Fahrradrundkurs durch die reizvolle Landschaft und gaben dazu auch eine vierfarbige Fahrradkarte heraus. Seit vergangenem Jahr gibt es zudem einen Fahrradverleih: Sechzig Fahrräder stehen an den Bahnhöfen Neustadt, Wittstock und Heiligengrabe für Reisende bereit. Und im „Ausbau Fünf“ gibt es eine zentrale Werkstatt und Übernachtungsmöglichkeiten. Auf dem Hof ist der Kornspeicher zu einem Veranstaltungssaal umgebaut worden. Hier unterm Dach gibt es regelmäßig Film- und Musikveranstaltungen. In den Sommermonaten wird es außerdem in drei Dörfern wieder regelmäßig Filmvorführungen unter freiem Himmel geben, und im Juni ist ein zehntägiges Kinderlager geplant: Dafür wurden in den vergangenen Monaten mehrere große Indianer-Tipis genäht. Auch ein Tanzwochenende für die Jugendlichen und Kinder der Umgebung ist vorbereitet, erzählt der lebhafte Olaf, der zu DDR-Zeiten als Leiter der Werbeabteilung der bezirklichen HO arbeitete.

Ein festes, das ganze Jahr vorausgeplantes und gedrucktes Programm aber soll es dieses Jahr nicht geben, haben die Rosenwinkler beschlossen: Man wollte sich nicht so sehr unter Druck setzen und spontaner Eigeninitiative mehr Raum lassen. Ein Stück bewußte Desinformation steckt wohl dahinter. „Wir wollen nicht mehr Aktion machen für Leute, die hier für einen Tag einfallen und dann abhauen, und wir haben danach die Arbeit“, betont Olaf.

„Der Wille, mehr im eigenen Haus, beim Nachbarn und in der eigenen Gemeinde zu wirken als auf die reisenden Vertreter aus der großen Steinstadt, ist in uns gewachsen“, haben die Rosenwinkler denn auch in ihrem Jahresprospekt formuliert. In diese Richtungsänderung paßt, daß sie kürzlich wieder eine alte Backstube in Betrieb genommen haben. Nun kramen die Dorfbewohner wieder das alte Wissen und Rezepte aus, backen Brot und Kuchen – in einem Dorf, wo der winzige Lebensmittelladen meist nur wenige Stunden geöffnet ist, eine wichtige Sache. Für die Rosenwinkler ist dies zugleich ein Schritt hin zu einer Versorgung mit Lebensmitteln, die nicht anonym ist.

Damit nicht genug: das heruntergekommende Bahnhofsgebäude und eine marode Brücke wurden restauriert. Und mit dem „Radio Rosenwinkel“ sind ganz eigene Kommunikationsstrukturen entstanden. In vier Ortschaften sammeln „Radioagenten“ Beiträge zu aktuellen Vorgängen. Mit Themen wie dem Widerstand gegen das geplante Bundeswehr- „Bombodrom“ bei Wittstock, mit Veranstaltungshinweisen und Musikwünschen wird einmal im Monat eine Kassette produziert. „Die Hörer sind zugleich Redakteur, Sprecher und Techniker.“ Rund 70 Menschen beziehen regelmäßig die Kassetten und finanzieren das Radio mit Spenden. Vor wenigen Monaten waren sie gar landesweit zu hören: Auf Einladung von „Rockradio B“ produzierte „Radio Rosenwinkel“ eine einstündige Live-Sendung.

Sie hätten bei der Renovierung des Bahnhofs befürchtet, die neu eingesetzten Scheiben würden in kurzer Zeit zerschlagen werden – doch sie sind immer noch drin. Und Olaf erzählt von dem Ofen, der früher im Bahnhof stand und jeden Morgen von den ersten Fahrgästen geheizt wurde. Jeder Wartende oder Ankommende habe nachgelegt. Nie sei das Feuer ausgegangen.

Kontakt: G.R.A.F., Ausbau 5, O-1921 Rosenwinkel

Die Serie wird am Montag kommender Woche fortgesetzt.