Kunst als Beispiel und Windspiel

Die XLV. Biennale in Venedig. Kunst im Garten nationaler Zwanglosigkeit. VIII Belichtungen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

I. Das Spektakel

Den Jahrmarkt erkennt man am Riesenrad und das Filmfest am Flutlicht. Den Fußball an der Verkleidung des Publikums. Den Karneval an fahrbaren Skulpturen.

Die Kunstfestivals holen sich Künstler, die ihnen Mega-Zeichen setzen, eher gigantische Absichtserklärungen, Reklame-Kunst; nicht Kunst als Kunst. In Kassel war es zuletzt der „Sky Walking Man“, der zweierlei vorwegnahm: den Rückgriff auf die Figur als irgendwie vergebliche Bemühung, und den Wink mit der Straßenlaterne, daß jenseits bester Absichten tatkräftiger Männer (ja, die Macher sind keine Macherinnen) etwas Metaphysisches lauere. So etwas wie Luft oder die Abwesenheit von Schwerkraft.

Auch die Biennale von Venedig ist längst so ein Festival geworden, ein Spektakel für ein Massenpublikum, das sich an den Betriebslärm gewöhnt hat und ihn verstärkt. Das Mega-Zeichen ist ein vierzehn Meter hoher armierter Pferdekopf, der vor den Giardini im Wasser verankert wurde: „Die in Eisen gelegte Form des Kopfes und des Halses eines Pferdes von Leonardo“, nach der Zeichnung in der Nationalbibliothek von Madrid. Aura-Verlust von der Zeichnung zur Skulptur: hundert Prozent.

Aber das macht nichts. „Il cavallo di Leonardo“, wie Ben Jakober und Yannick Vu ihre Gemeinschaftsarbeit nennen, setzt zweierlei Signale. Erstens ist die Biennale, wie gesagt, ein Spektakel wie die Documenta. Zweitens erfolgt die Präsentation von Kunst und Künstler(inne)n im Bewußtsein einer großen, bedeutsamen Geschichte der Kunst, deren Anfänge italienische sind.

II. Das Erbe

1893 hat die Biennale als nationale italienische Kunstausstellung begonnen, zwei Jahre später wurde sie zu einer Art Weltausstellung der Künste erklärt. Der wuchtige italienische Bau mit seinen unübersichtlichen Anbauten wird zwar auch padiglione genannt, hat aber die Größe eines kleinen Museums. Die Häuser der anderen Nationen sind entweder Miniaturen imperialer Villen (D, F, GB, USA...), elegante Bungalows (Brasilien, Skandinavien) oder mehr oder minder gelungene Kompromisse. Ihre Baugeschichte ist nicht leicht zu erkennen, zum einen weil der Pavillon ein metaphorisches Gebäude ist, und andererseits weil es an den älteren Pavillons etliche Umbauten gegeben hat.

Im Jahrhundert der Industrialisierung Europas und im Jahrzehnt der Wiederbelebung der Olympiade gegründet, ist die Biennale von Venedig ein Wettbewerb der Nationen, die ihre Pavillons selbständig (und je nach den politischen Strukturen der Länder auf intern sehr unterschiedliche Weise) an Künstler(innen) delegieren. Wie die Berliner Festspiele hat die Biennale von Venedig mehrere Sektionen, eine davon ist das Filmfest. Auf der Kunst-Biennale werden diverse Preise vergeben, unter anderem für den besten Pavillon. Die Jury besteht dieses Mal aus Luciano Anceschi, Giovanni Caradente, Julia Kristeva, Steingrim Laursen, Katharina Schmidt und Nicholas Serota: eine europäische Angelegenheit.

III. Der Kanon

So wie Jan Hoet auf der Documenta an entlegener Stelle mit wenigen wichtigen historischen Kunstwerken versucht hatte, einen Kanon zu etablieren, eine Referenz preiszugeben, stellt der Chefkurator der Biennale, Achille Bonito Oliva, eine Schau mit dem Titel „Punti dell(Apostroph)arte“ in den Mittelpunkt. Aber anders als Hoet beläßt Bonito Oliva es nicht bei der Gegenwart der Bilder, sondern er ordnet sie: grave, araldico, aureo, fermo. Das ist bedingt nachvollziehbar: warum sollte man nicht die Malerei Per Kirkebys schwer (oder feierlich) nennen, die Streifen-Kunst Daniel Burens heraldisch (oder verkündend), die gelöcherten Leinwände Lucio Fontanas kostbar, und die Fundstück- Assemblagen von Christian Boltanski standhaft (oder entschlossen)? Andererseits: Gehört denn Joseph Beuys wirklich, „feierlich“, an die Seite von Kirkeby, und ist nicht Cy Twombly eher „kostbar“ als heraldisch? Wird nicht die Komik eines Polke unterhöhlt, wenn man ihn zum Künder macht?

In der Praxis der Begehung verwischen sich die Zweifel, weil die bildnerische Kraft einzelner Arbeiten ohnehin stärker ist als die Kategorisierung oder schwächer als der Nachbarraum. Was vor allem schlecht funktioniert, ist das Kunstwerk als Beispiel. Die Räume sind zu eng, die schmale Auswahl vom Zufall diktiert, vom Glücksfall oder vom Galeristen. Obwohl ein Lageplan am Beginn der „Punti“ mich leiten will, bin ich schon auf der Hälfte der Begehung über bulgarische Seltsamkeiten in die afrikanische Abteilung gestolpert: Der italienische Pavillon ist mal wieder ein Supermarkt.

IV. Die ordnende Hand

Seit 1978 („From Nature to Art, from Art to Nature“) gibt es die Option, einer Biennale ein Thema zu geben – damals hatte sich ein internationaler Stab zur Vorbereitung zusammengesetzt. Diesmal erklärte Bonito Oliva, er rege die Länder dazu an, von dem Prinzip, „ihre“ Künstler(innen) zu präsentieren, abzuweichen. Es ist aber nicht gelungen, diese Anregung zu einem Thema werden zu lassen.

V. Pavillon „D“

Woher Bonito Oliva die Idee hatte, die nationale Repräsentation der Pavillons in Frage zu stellen, ist nicht schwer zu raten. Bereits vor zwei Jahren hatte der Kommissar – wie es offiziell so schön heißt – des deutschen Pavillons, Klaus Bußmann, seine Einladung an Hans Haacke und Nam June Paik ausgesprochen, beides Künstler, die größtenteils in New York leben. Haacke allerdings ist gebürtiger Kölner (Jahrgang 1936), Paik ist Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf.

Beide sind Einzelgänger von erheblichem Einfluß, aber in deutschen Museen schwer zu finden. Beide werden ein bißchen für ihre Obsessionen bewundert und aus dem gleichen Grund gemieden. Und könnten doch gegensätzlicher kaum sein. Das Ergebnis ist schockierend und zieht die Massen an.

Paiks Einsatz von Fernsehgeräten, ihrer nackten Technik, Gehäuse und Bildschirme ist vollkommen hemmungslos. Im einen Flügel des Gebäudes tritt man durch ein Kabinett, das an die schönsten Fluxus-Zeiten (Kuriosa, Krach, Beuys und nackte Frauen) erinnert, in den linken Flügel des Gebäudes, in dem Paik eine Bildschirmwand in der vollen Höhe des Raums installiert hat, ein auf röhrenden Lautsprechern gelagertes Flimmer-Inferno. Es hat keinen Zweck, sich „das anzusehen“, aber man hat eine halbe Stunde Zeit, bis das Programm von vorn beginnt. Es gibt wenige Leitmotive, die hängenbleiben: ein paar lustige Samples von Videos, die bei Auftritten von John Cage gemacht wurden (grinsend, winkend, keine Spur Requiem); eine Nackte, auf einer amerikanischen Flagge liegend (über eine Manipulation des Programms verschwindet ihr Bild regelmäßig in spiralförmiger Zersetzung); ein Tänzer, der in der Horizontalen über mehrere Bildschirme erscheint und von einem roten Umriß gedoubled wird. Spacemäßiges, Typografie. Die Motive werden über Gruppen von Bildschirmen ausgefahren, verdoppelt, brechen von den Rändern her weg, werden gespiegelt und farblich gekontert: das ganze Arsenal kunsthandwerklicher technischer Manipulation, vorgeführt als Übung in Rhythmus, Tendenz, Trance. Im anderen Flügel des Gebäudes ist das Prinzip verkehrt: In der Mitte des Raums stehen die Maschinen mit ihren drei farbigen Augen, die wenige Motive an Decke und Wände projizieren. Wie sie sich überlagern, verschwinden und wiederkehren, scheinen sie die gefügte Dimension des Binnenraums zu sprengen, es bleibt der Eindruck eines kristallinen Leuchtens. Komplettiert wird das Paiksche Gesamtschundwerk von Roboterpersiflagen, die im Rücken des Pavillons aufgebaut sind und mit ihren grellen Glotzern die Passanten auf der Promenade erheitern und Leonardos Pferd scheu machen.

Aus dem Inneren des Pavillons (die Durchgänge vom zentralen Raum zu den Flügeln sind zugebaut) dringt ein Klacken, als werde ein hektisches Billardmatch über Lautsprecher verstärkt. Es sind die Besucher selbst, die den Krach verursachen. Sie bewegen sich auf den Steinplatten, die den Boden des Pavillons bildeten, bis Hans Haacke die Platten herausreißen ließ, eigenhändig zerschlug und ineinander schichtete, so daß, wer sich in den zentralen Raum hineinwagt, einen pittoresken Trümmerhaufen begeht, C.D.Friedrichs „Eismeer“ als Steinbruch. An der runden Stirnwand des Gebäudes heißt es, in Vergößerung der Typographie an der Außenwand, „GERMANIA“. Und so heißt auch die Arbeit, nachdem Haacke den Titel „Bodenlos“ verworfen hatte.

Was an Haackes Arbeit verstört, ist, daß die Demolierung zwar metaphorisch, aber nicht symbolisch ist. Tatsächlich wurde der Boden des Pavillons gewaltsam zerstört, und daß das Innenministerium, das bi-jährlich nur einen Teil der Mittel für die Gestaltung des Pavillons aufbringt (und das auch nur zögerlich), Herrn Haacke Dankesbriefe nach New York schicken wird, kann als unwahrscheinlich angesehen werden.

Mit zwei Hinweisen hat Haacke seinen Eingriff motiviert. Über dem Portal hat er in billiger Imitation eine große D-Mark angebracht, und im Eingang ist auf rotem Grund ein Foto von Hitler angebracht, wie er in Begleitung dreier Personen, zwei davon italienische Uniformierte, eine Ausstellung durchschreitet. Dieses Bild, argumentiert der Künstler, zeige Hitler auf der Biennale 1934. Damals habe Hitler Mussolini den Umbau des Pavillon versprochen, der dann erfolgte. So erscheint Haackes Eingriff als Rache an einem gewissermaßen kompromittierten Gebäude. Mit der Reduktion seiner Signale erlaubt er eine Menge Spekulationen, die sich allerdings an einem Punkt verhärten: Danach stellt die Bundesrepublik Deutschland keinen Neuanfang dar, sondern steht für das Wuchern des Schuldzusammenhangs. Nicht Ludwig Erhard hat die D-Mark erfunden, sondern Hitler. Was jetzt in Deutschland an „Fremden“haß hochkommt, ist gedeckt durch die Verstrickung der Bundesrepublik in internationale Geschäfte um Rohstoffe, Technologie und Waffen. Das ist der Nachteil, wenn man Haacke einlädt. Er ist ein trojanisches Pferd, von dem man schon weiß, wer drinsitzt: die saturierte Altlinke der BRD.

Aber ebensowenig wie Paiks schwächere Fluxusskulpturen im Garten, rührt Haackes gequälte Didaktik an die Wucht des Pavillons. In seiner tiefen Abneigung gegenüber dem Beschaulichen ist Klaus Bußmanns Pavillon sehr „deutsch“, und reicht dennoch tief in die Probleme der Industriestaaten der Jetztzeit: der Krach und die Ambivalenz der Medienwelt umklammern die Gesellschaften, die sich ihrerseits an ein hohles Erbe klammern. Es bleibt nicht viel übrig, außer Schrecken.

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VI. Die Alternative

Was als Beispiel internationaler Verständigung ausgegeben wird, erweist sich als marktproportionale Präsenz der New Yorker: Andrea Fraser streut im österreichischen Pavillon ihre politische Korrektheit aus; im ungarischen Pavillon darf Josef Kosuth sich entfalten; im deutschen Pavillon Paik und Haacke, und im russischen Pavillon Ilya Kabakov. Und weil es schick ist, nicht aus dem eigenen Land zu sein, wird selbst die alte Louise Bourgeois, die schon seit mehr als fünfzig Jahren in Amerika lebt, als ausländische Französin angepriesen. (Daß die internationale Künstlerschickeria durch Propanda wie diese zum role model fehlgeleiteter mitteleuropäischer Proletarier wird, ist wohl nicht zu erwarten.)

Israel hat seinen Pavillon tatsächlich nicht-israelischen Künstlern überlassen, aber im Rahmen der „Partecipazioni Nazionali“ stehen sie selbstverständlich nicht für Israel. Für Israel steht das Gewächshaus („Hamama“) von Avital Geva, eine kühle, überdachte Oase, die im vorderen Gartenbereich des Geländes aufgebaut worden ist. Nach einem Jahrzehnt voller Selbstzweifel war der politisch umgetriebene Konzeptkünstler Geva 1980 in seinen Kibbuz Ein Shemer zurückgekehrt. Dort betreibt er das Hamama-Projekt, das sich – so der israelische Katalog – „aller Metaphorik entzogen hat“: Gemüseforschung mit Jugendpädagogik und Denkraum. Wenn es darum gehen sollte, der Kunst (und den Künstler(inne)n!) beim Verschwinden zu helfen, wie Wolfgang Max Faust es wünscht, wäre dies vielleicht die richtige Richtung. Ins technische Paradies.

VII. Die Wucherung

Die „Giardini di Castello“ sind ein magisches Gelände; aber die Länderbuden und die beigestellten Themenausstellungen und Retrospektiven fangen den Druck des Marktes nicht auf. Deshalb gibt es auch dieses Mal wieder die Schau „Aperto“ mit über hundert Künstlern. Ein Architekt sollte den Künstler(innen) bei der Installation ihrer Arbeiten zur Seite stehen. Aber daraus wurde nichts, und am Ende wurden Streitigkeiten von brüllenden Galerist(inn)en geschürt und bewältigt. Was in den „Corderie dell(Apostroph)Arsenale“ – eine Bootsstation von den Giardini entfernt – zu sehen ist, gleicht dann doch eher einer Messe: ein langer Schlauch mit Kojen, das Laute triumphiert über das Stille, ein Gefühl für Qualität stellt sich nicht ein. Und daß Bonito Oliva die Ausstellung mit dem Zusatztitel „Emergenza“ überschrieben hat, wirkt dann doch wie ein unfreiwilliger Kommentar. Es ist ein Gerücht, daß Künstler(innen) zwischen 25 und 35 den Zustand der Welt besonders scharfsinnig erkennen könnten.

VIII. Die Entdeckung

Daß die Balance von Schrillem und Edlem, Lautem und Leisem in den Giardini funktioniert, belegt die angenehme Gegenwart einer fast flächendeckenden Retrospektive: die Arbeiten der Gruppe Gutai. Gleich am Einlaß, neben dem spanischen Pavillon, steht eine starke, heitere (Bonito Oliva würde wahrscheinlich sagen: heraldische) Arbeit. Es sind nichts weiter als weiße Vierkant-Stäbe mit farbigen Oberkanten, die so ins Gras gedrückt worden sind, daß ihr Verlauf eine Wellenform ergibt (Toshio Yoshida: „Sakuhin (Werk)“ von 1955). An anderer Stelle findet man ein flaches, zehn Meter langes Bassin, in dem elf kleine Flöße von unterschiedlichem, schrägem Zuschnitt schwimmen. Die schwimmenden Hölzer tragen Aufbauten aus Zellophan in teils giftigen, teils blassen Farben. Wenn man herantritt, sieht man in der Mitte der Flöße schmale weiße Kerzen stehen: schwimmende Lampions.

Trotz beinahe völliger Windstille bewegen sich die Flöße, ballen sich zu Gruppen und treiben wieder auseinander. Ein Japaner kümmert sich um ein verunglücktes Floß. Er sieht aus wie Mitte fünfzig, aber ist 71 Jahre alt: Sadamasa Motonaga. Sämtliche Arbeiten der Gruppe Gutai sind von den Künstlern der Gruppe (Jahrgänge 1922-33) für die Biennale rekonstruiert worden, so auch die „Fune (Schiffe)“ von 1956. Es sind konzentrierte Skulpturen von großem sozialem Sinn und präziser Sinnlichkeit, mit einem elaborierten Verhältnis zum Material, zum Ort, zum Licht. Allein deshalb lohnt der Weg nach Venedig, von Venedig mal abgesehen.

Die Biennale in Venedig ist bis zum 10. Oktober zu besichtigen. Der Katalog kostet ca. 130 DM.