Die Grünen stellen Prinzip Gewaltfreiheit in Frage

■ Länderrat plädiert für Einmischung zum Schutz der Menschenrechte

Bonn (taz) – Der prinzipielle Pazifismus der Grünen gerät ins Wanken. Der erste Länderrat nach der Vereinigung mit dem Bündnis 90 verabschiedete am Wochenende eine Erklärung, in der das bisherige Bekenntnis prinzipiell gewaltfreier, internationaler Konfliktlösung mit der Forderung nach „internationaler Einmischung zum Schutz der Menschenrechte“ ergänzt wird. Dem Prinzip der Gewaltfreiheit müsse mit dem Schutz der Menschenrechte „ein gleichrangiges Prinzip“ zur Seite gestellt werden, heißt es in dem von Graefe zu Baringdorf, Biggi Bender und anderen eingebrachten Antrag, der nach mühsam-unübersichtlicher Kompromißsuche mit zwanzig zu zehn Stimmen angenommen wurde.

Zwar gilt, so der Beschluß, nach wie vor, daß Militär und Interventionsstreitkräfte einen Konflikt nicht politisch lösen und zivile Strategien nicht ersetzen könnten; dennoch seien Konfliktsituationen denkbar, in denen erst die Anwendung von militärischem Zwang „den Raum für friedliche Streitschlichtung“ schaffe. Zwar dürfe es auch in Zukunft keine „generelle Einsatzoption“ für die Bundeswehr geben, doch „humanitäres Eingreifen im Rahmen der Vereinten Nationen muß in Einzelfällen nach einer parlamentarischen Abstimmung möglich sein“.

In Bosnien-Herzegowina, so der Länderratsbeschluß, könne „nicht jeder Einsatz von Zwang und Gewalt von vornherein völlig ausgeschlossen werden, um im Sinne einer Notwehr und Nothilfe das nackte Überleben der Menschen zu sichern“. Gegen den bisherigen grünen Einwand, internationale Einmischung zum Schutz der Menschenrechte führe zu einer Relegitimierung des Militärs, argumentierte der Länderrat am Wochenende, erst die widerstandslose Hinnahme des serbischen Eroberungskrieges lasse Krieg wieder als „taugliches Mittel zur Durchsetzung hegemonialer Ambitionen“ erscheinen. „Bei anhaltender Tatenlosigkeit“ in Bosnien-Herzegowina werde das „serbische Lösungsmodell“ in Europa „Schule machen“.

Der Beschluß vom Wochenende ist zweifellos erst der Beginn einer Debatte zur Neuformulierung grüner Außen- und Sicherheitspolitik. Doch daß sich der Länderrat, anders als noch im März, diesmal für eine Einmischungspolitik im Interesse der Menschenrechte aussprach, ist sicher die erste spürbare Konsequenz der Vereinigung mit den BürgerrechtlerInnen vom Bündnis 90, die am Wochenende in Bonn vehement für ihre Position stritten.

Entscheidend aber dürften am Wochendende die Berichte gewesen sein, die die bündnis-grünen Teilnehmer einer Informationsreise ins bosnische Kriegsgebiet am Samstagabend vorgetragen hatten. Petra Morawe, Vera Wollenberger, Marieluise Beck-Oberdorf schilderten die dramatische Situation im zentral-bosnischen Kriegsgebiet, die auf den „systematischen Völkermord“ an den muslimischen Einwohnern hinauslaufe. Der „Faktor Zeit“ spiele mittlerweile eine zentrale Rolle, da die verbliebene Zeit für internationale Hilfs- und Rettungsmaßnahmen, „mit der verbliebenen Lebenszeit der muslimischen Bevölkerung“ abgewogen werden müsse. Die aber, so die einhellige Einschätzung der DelegationsteilnehmerInnen, sei angesichts der Blockade von Hilfslieferungen durch Kroaten und Serben, der chronischen Unterversorgung mit Lebensmittel, Wasser und Medikamenten sowie den fortdauernden Massakern auf zwei bis drei Monate begrenzt. Deshalb gelte es jetzt, das Mandat der UNO-Truppen zu erweitern.Auch die Gegner einer „humanitären Intervention“ zeigten sich von den Schilderungen „betroffen“. Doch forderten unter anderem Frieder 0. Wolf, Ludger Volmer und Angelika Beer, einen „klaren Kopf“ zu behalten und in dieser Frage Rationalität nicht durch Betroffenheit zu ersetzen. Sie plädierten weiter für die „geduldige Suche“ nach zivilen Konfliktlösungsmechanismen, verwiesen auf die Gefahr militärischer Eskalation, fragten, wohin man käme, wenn man in allen 40 Kriegsregionen der Welt intervenieren wolle und hielten der Versammlung immer wieder vor Augen, daß mit der anstehenden Entscheidung „eine Säule des grünen Selbstverständnisses auf dem Spiel“ stehe. Demgegenüber plädierten insbesondere Biggi Bender, Petra Morave und Marieluise Beck-Oberdorf „für ein Minimum an Zwangsmitteln, mit denen erst verhindert werden könne, daß eine politische Lösung am Ende nur noch auf dem Friedhof stattfinden“ könne.

Zu einer klaren Forderung nach militärischem Eingreifen wollte sich der Länderrat am Ende nicht durchringen. Doch forderte er „zur Abwendung der entgültigen Katastrophe“, die Sicherung der Lebensmittelversorgung, die Auflösung der Lager sowie die Einrichtung einer zusammenhängenden Schutzzone in Zentralbosnien. Matthias Geis