Achtung, hier schreibt die Polizei!

■ Ralf Pestrup, der dritte Mann von der Polizei-Pressestelle: auf der Suche nach der kriminellen Sprache

Zehn Meldungen durchschnittlich sind in der Polizeipressestelle Am Wall pro Tag und Nacht zu bearbeiten. Aus Anzeigen-, Vernehmungs-und Fahndungsprotokollen werden sie von drei Fachmännern auf ihren wesentlichen Gehalt zusammengedampft.

Morgens um sechs beginnt die erste Schicht, damit Zeitungen, Radio und Fernsehen per Fax mit Bremens polizeilich auffälligen Geschehen versorgt sind. Die meisten Meldungen handeln von alltäglichen Unglücken und Kleinkriminalität — kaum einer Kenntnisnahme wert, wenn nicht der Anspruch, daß sie äußerst knapp und präzise sein müssen, zu sehr amüsanten Ausrutschern führen können: WÄHREND DREI FRAUEN IM ALTER VON 45, 32 UND 21 JAHREN ZUSAMMEN MIT DEM ZWEIJÄHRIGEN SOHN DER 32JÄHRIGEN UND DER DREIJÄHRIGEN TOCHTER DER 21JÄHRIGEN IM WOHNZIMMER SASSEN, BRACH IM KINDERZIMMER EIN FEUER AUS — VERMUTLICH AUSGELÖST DURCH DEN VIERJÄHRIGEN SOHN DER 21JÄHRIGEN.

Seit zwei Jahren nun ist zu den beiden älteren Beamten der ehemalige Kriminalpolizist Ralf Pestrup, 34, dazugestoßen. Dieser ernste und zurückhaltende Mann hat den Stil der Bremer Polizei-Pressemeldungen auf eine Weise revolutioniert, daß man die von ihm verfaßten Fax- Meldungen auch ohne Unterschrift leicht identifizieren kann. Einmal malte er eine kleine Comic-Bombe mit brennender Zündschnur hinter die Meldung einer Bombendrohung und schaffte so ein neues, humoristisches Bild von der Bremer Polizei.

Ralf Pestrup, poetischer RealistFoto: Jörg Oberheide

Charakteristisch aber für Pestrups Schreibstil ist seine moralische Einfühlsamkeit, die durchaus Wertungen wagt, und sein Sinn für Pointen, der aus einem Nichts ein Geschichtchen macht. Vor Pestrup sah eine herkömmliche Meldung etwa so aus: NACH EINER ZUNÄCHST VERBALEN AUSEINANDERSETZUNG IN EINER SCHANKWIRTSCHAFT (!) ERHIELT DER GESCHÄDIGTE VON DEM ANDEREN BETEILIGTEN EINEN SCHLAG, KAM INS TAUMELN UND STÜRZTE EINE TREPPE HINUNTER. TROTZ ÄRZTLICHER VERSORGUNG AM EINSATZORT VERSTARB DER GESCHÄDIGTE AM EINSATZORT.

Das sind nüchterne Fakten.

Pestrup aber sieht in einem einfachen Blumendiebstahl ein kleines Alltagsdrama, wie in dieser Meldungseinleitung: NICHT LANGE KONNTE SICH EINE 59JÄHRIGE HAUSFRAU AUS DER BREMER NEUSTADT AN IHRER AZALEENPRACHT IM VORGARTEN FREUEN. AM MITTWOCH VORMITTAG ZEUGTEN NUR NOCH VIERZEHN ERDLÖCHER VON DER FRÜHEREN BLUMENPRACHT! VERSTÄNDLICHERWEISE RECHT VERÄRGERT, BRACHTE SIE DEN DREISTEN DIEBSTAHL ZUR ANZEIGE.

„Ich möchte, daß man sich Situationen vorstellen kann“, sagt Pestrup, „wir haben einen solchen Durchlauf an Kriminalität,

daß man schnell das Gefühl dafür verliert: es sind immer wirkliche Menschen, denen die großen und kleinen Unglücke passieren.“

So versucht er nicht nur, das „Quentchen Außergewöhnlichkeit“ im banalen Kleinkriminalitätsgeschehen zu entdecken, sondern nimmt auch teil an der gefühlsmäßigen Dimension der Vorfälle, im gegebenen Rahmen natürlich. Nicht nur findet man Formulierungen wie PECH FÜR DEN TÄTER WAR... oder UNGLÜCKLICHERWEISE BEDACHTE SIE NICHT..., sondern dezent wird angedeutet, wie das Leben eigentlich zu laufen hätte. In dieser Meldung über einen versuchten Selbstmord zum Beispiel: EIGENEN ANGABEN ZUFOLGE WOLLTE EIN 30JÄHRIGER BREMER SCHLUSS MACHEN. PASSANTEN, DENEN ER SEINE ABSICHT LAUTHALS (!) MITTEILTE, VERSUCHTEN NOCH, IHN VON SEINEM VORHABEN ABZUBRINGEN. DOCH VERGEBENS, DER LEBENSMÜDE SPRANG VOM BRÜCKENGELÄNDER IN DIE KLEINE WESER. EIN 32JÄHRIGER MANN SPRANG OHNE ZU ZÖGERN HINTERHER UND KONNTE DEN ERTRINKENDEN PACKEN UND ANS UFER ZIEHEN. SEINEM MUT IST ES ZU VERDANKEN, DASS DER BREMER ÜBERHAUPT NOCH (!) LEBT!

„Unsere Aufgabe ist eigentlich sehr nüchtern“, erklärt Pestrup. „Ein Ausdruck wie zum Beispiel VERGEWALTIGUNG IN BESONDERS SCHWEREM FALL beschreibt den Leidensweg einer Frau für die nächsten Jahre. Ich will diese Floskeln möglichst vermeiden.“

Ganz geht das natürlich nicht. Ausdrücke wie ZECHANSCHLUSSRAUB, BEZIEHUNGSDELIKT, EINVERNAHME und RAUBSACHE gehören nun einmal zur Polizeimeldungssprache. „Naja“, sagt Pestrup, „ich will ja auch nicht wie Simmel schreiben. Wär ja auch zu lang.“ Cornelia Kurth