Der Russenmarkt in Kairo

Die Zeiten, als Aufbauhelfer aus der Sowjetunion in Ägypten das Bild der Russen prägten, sind vorbei / An ihre Stelle sind Händlerinnen getreten, die die Kairoer mit billigen Kleinigkeiten erfreuen  ■ Aus Kairo Karim Gawhary

Kairo, das ist ein Markt für alle Lebenslagen. Da sind die Gemüsemärkte in den Vierteln, da ist der Stoffbazar auf der anderen Seite des Nils, der Markt für Wasserpfeifen in der Altstadt, und gleich dahinter der nächste Bazar, auf dem sich alles um die Hochzeit dreht.

Solche Märkte kommen und gehen. Während der Trödelmarkt für Bücher und Zeitschriften vor einigen Monaten aus „verkehrstechnischen“ Gründen von der Stadtverwaltung aufgelöst wurde, entwickelte sich an anderer Stelle etwas völlig Neues: Der suq ar-ruus, der Russen-Markt. Irgendwann sprach sich herum, daß man neuerdings auf den Straßen vor einigen Hotels im Kairoer Stadtteil Dokki Samoware, Plastikspielzeug und Kosmetik made in Russia zu Schleuderpreisen erstehen kann.

Am Ort des Geschehens bietet sich ein eher ein verwirrendes Bild: Vor den Hotels laufen russische Frauen mit prall gefüllten Plastiktaschen auf und ab, denen Scharen ägyptischer Männer folgen. Die Frauen tragen fast alle Miniröcke – in Kairos Straßen eine eher ungewöhnliche Bekleidung. Auf den Hotelbalkonen stehen ihre Männer und überwachen das Geschehen von oben. Zwischen Russinen und Ägyptern auf der Straße spielen sich hektische Preisverhandlungen um den Inhalt der Taschen ab – und die Kundschaft nimmt die Verkäuferinnen dabei ungeniert in Augenschein. Kaufwut und Anmache sind gleichermaßen Motive für die hastigen Geschäfte. Nicht nur die Welt des Rubels und des ägyptischen Pfundes treffen hier unvermittelt aufeinander. Um diese Begegnung der dritten Art für alle Seiten einfacher zu machen, hat sich rund um den Markt eine völlig neue Infrastruktur entwickelt. Ägyptische Taxifahrer bieten den Geschäftsfrauen den Innenraum ihrer Autos als Büro und den Kofferraum als Ausstellungsfläche an. Das ist für beide von Vorteil. Russinnen, die es sich leisten können, verhandeln vom sicheren Beifahrersitz aus, und der Taxifahrer spart Benzin. Andere mieten kurzerhand einen Ägypter, der dann den Kram an den Mann auf der Straße bringt.

Wer sich die Dienste der Einheimischen nicht leisten kann, muß sich vor allem durch Gesten mit der Kundschaft verständigen. Einige Russinnen haben immerhin schon ein paar arabische Zahlen aufgeschnappt. Es ist eine Minimal-Sprache aus Zahlen und Fingerzeigen auf die Produkte. Vor allem russische Lippenstifte haben sich zu einem wahren Verkaufshit entwickelt. Statt für 50 Pfennig im ägyptischen Laden gibt es hier das gleiche um die Hälfte auf russisch.

Zuweilen unternimmt die Polizei zaghafte Versuche, der Lage Herr zu werden. Ein Offizier deutet mit einem soeben erstandenen Aluminium-Teppichklopfer auf die nächste Kreuzung. „Bitte gehen Sie weiter“, läßt er vernehmen, wohl wissend, daß die Russinnen ihn nicht verstehen, und die Ägypter ihn mit seinem neuen Teppichklopfer getrost ignorieren können.

Die Nachbarschaft hingegen reagiert sauer. Nicht nur in dieser Hinsicht erinnert der souq ar-ruus an den früheren Polen-Markt, der den Berliner Saubermännern ja auch ein Dorn im Auge war. Auch in der ägyptischen Presse ist schon manches böse Wort über den Russenmarkt gefallen. Für Muhammad Hossni, den Hotelmanager des von den Russen frequentierten Pharao-Hotels ist das aber kein Grund zur Beunruhigung. Sicher, da draußen gehe es etwas chaotisch zu und es hagele Beschwerden von den Nachbarn, aber „solange die Hotellobby nicht zum Marktplatz wird, ist mir das egal“. Für ihn kamen die Russen gerade recht, seit westliche Touristen aus Angst vor Anschlägen militanter Islamisten kaum mehr einen Fuß ins Land setzen. Das St. George- Hotel direkt neben dem Kairoer Tierpark hat die Zusammenarbeit mit den RussInnen hingegen beendet. Sie hätten den Eingang blockiert, in den Zimmern sei die Hölle los gewesen. Sie hätten sogar Lebensmittel mit auf die Zimmer genommen und dort gekocht. Ständig sei die Polizei dagewesen. So habe das nicht weiter gehen können, erklärt der Portier den Standpunkt seines Chefs.

Sie haben es eilig, die blassen Besucher aus dem kalten Nordosten. Denn für ihre Geschäfte bleiben ihnen selten mehr als vier Tage. Zwei Tage Kairo und zwei Tage Alexandria stehen auf dem Programm des Reiseveranstalters. In dieser Zeit muß nicht nur alles verkauft sein. Die Taschen müssen für den Export nach Rußland mit Waren aus Kairos Schuh- und Stoffläden gefüllt werden, wo man die Russinnen als gute Kundinnen kennt.

Für manche Ägypter geben die durch die Innenstadt hetzenden RussInnen ein komisches Bild ab. Vor allem die älteren Kairoer erinnern sich noch an deren Landsleute, die in den 60er Jahren meist als Fachleute und Ingenieure im Land am Nil auftauchten. Im Rahmen der brüderlichen Zusammenarbeit leisteten sie dem blockfreien Ägypten Nassers „sozialistische Aufbauhilfe“.

Ende der 50er Jahre half Moskau Kairo gleich mehrfach aus der Patsche. Als Präsident Nasser eine immer eigenständigere Politik verfolgte, zogen die USA, Großbritannien und die Weltbank 1956 die bereits zugesagten 270 Millionen Dollar Kredite zum Bau des Assuan-Staudammes zurück. Nasser ließ darauf den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal verstaatlichen, um so das nötige Kapital aufzubringen. Als anschließend israelische, britische und französische Truppen in die Kanalzone einfielen, war es vor allem eine scharfe Note aus Moskau, die eine militärische Rückeroberung des Kanals verhinderte. „Die Sowjetbürger sind keine passiven Zuschauer internationaler Räubereien“, hieß es in einer von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS verbreiteten Erklärung. Die Sowjetunion gewährte Ägypten zwei Jahre später für den Bau des Assuan-Staudammes Kredite im Wert von 320 Millionen Dollar. 1.800 russische Techniker waren vor Ort an dem Projekt beteiligt, erzählt der damalige Minister für Bewässerung, Ibrahim Kenawi.

Bis zu 20.000 sowjetische Berater sollen ihr Fachwissen auch oft an das ägyptische Militär weitergegeben haben. In den Luftabwehrstellungen am Suezkanal oder bei Aufklärungsflügen war sowjetisches Personal beteiligt. So manches ägyptische Bauernkind bekam damals einen Namen wie „Russiya“ oder „Lenin“ verpaßt.

Doch Nassers Nachfolger Sadat beschloß, daß im Westen mehr zu holen war. Im Juli 1972 verwies er über Nacht alle sowjetschen Berater des Landes. Vier Jahre später kündigte er den gerade fünf Jahre alten sowjetisch-ägyptischen Freundschaftsvertrag. Erst Mubarak, in jungen Jahren selbst Moskau-Student, nahm die Beziehungen 1983 vorsichtig wieder auf.

Das sowjetische Kulturinstitut erlebte diese bewegte Geschichte als Wechselbad von Öffnungen und Schließungen. Samir Abdel Baqi war Direktor des Hauses, bevor es aus seinem Namen das Wort „sowjetisch“ verlor. Es stimmt ihn traurig, dem langsamen Zerfall des Russen-Images zuzusehen. In den 60er Jahren waren die russischen Fachleute in Ägypten sehr angesehen, während viele Ägypter heute Witze über die Lippenstift-Verkäuferinnen machen.

Trotz der langen Jahre sowjetischer Präsenz ist die russische Kultur nie ein Bestandteil des ägyptischen Lebens geworden. Russisch blieb allen chinesisch. „Russische Literatur wurde meist nur für eine intellektuelle linke Minderheit übersetzt, und auch die Filme im Kulturinstitut waren meist Propagandafilme“, berichtet Abdel Baqi rückblickend. Und die wenigen besseren Filme, die er der sowjetischen Bürokratie in zähen Verhandlungen abringen konnte, waren „Damm al-ti'il“ – „schweren Blutes“, zu schwermütig für den ägyptischen Geschmack.

Muhammad Gindi, Direktor des Verlages „Neue Kultur“, stimmt dieser Einschätzung weitgehend zu. Sein Verlag hatte sich darauf spezialisiert, russische Literatur und Fachbücher ins Arabische zu übersetzen. „Doch die Leute lasen lieber Shakespeare als Tolstoi“, erzählt er, und die großen Verlage verlegten sich mehr auf angelsächsische oder französische Literatur. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so der mit einer Russin verheiratete Verlagsdirektor, kamen die kulturellen Beziehungen dann fast völlig zum Erliegen. Sein Verlag bekam keine Übersetzungsaufträge mehr und hat sich inzwischen auf palästinensische Literatur und Übersetzungen von Arbeiten französischer Orientalisten verlegt.

Früher habe es einen ständigen Kulturaustausch mit russischen Künstlern und Lehrern gegeben, erinnert sich Gindi. Das berühmte Marionettentheater etwa sei von den Russen angelernt worden, ebenso das Staatsballett, deren Mitglieder meist in Moskau studiert haben. Heute schaut nur noch das Moskauer Bolschoi-Ballett gelegentlich in Kairo vorbei.

Der Kulturaustausch ist auch teurer geworden. Früher waren die übersetzten russischen Fachbücher über Medizin und Naturwissenschaften bei ägyptischen Studenten sehr gefragt, kosteten sie doch nur einen Bruchteil der westlichen Fachliteratur. Und auch ein Studium in Rußland konnten sich viele leisten. Das ist vorbei.

Für den Direktor der Abteilung Nahost im russischen Außenministerium, Viktor Busuvaliok, ergeben sich dagegen neue Möglichkeiten im arabisch-russischen Austausch. „Die früheren Treffen basierten doch auf offiziellen Slogans der Freundschaft. Heute ist bei den Bürgern eine neue Sympathie entstanden“, schreibt er in der libanesischen Zeitung Al-Hayat. Das werde besonders durch die direkten Reisemöglichkeiten in beide Richtungen gefördert, denen früher viel im Weg stand.

Auch Verlagschef Gindi hofft, daß durch den expandierenden Privatsektor und die größeren individuellen Freiheiten in Rußland eine neue Art von Austausch entstehen könne. Es könnten sich mehr „persönliche Beziehungen“ entwickeln. Die früheren russischen Staudamm-Ingenieure und Militärberater lebten in relativer Isolation, und hatten kaum Kontakt zu den Ägyptern.

Soeben hat sich allerdings herumgesprochen, daß der „persönliche“ russisch-ägyptische Austausch fürs erste zum Stillstand gekommen ist. Plötzlich ist kein Russe mehr zu sehen. Sie warten nunzu Hause auf den Umtausch ihrer alten sowjetischen Pässe gegen neue russische Reisedokumente. Und Kairo wartet derzeit vergeblich auf die nächste Ladung russischer Lippenstifte. Aber wie gesagt: Märkte kommen und gehen in dieser Stadt an der Schnittstelle von Afrika, Asien und Europa.