Kräfte der Finsternis

Die PLO war nur kurz interessiert, die arabischen Staaten überhaupt nicht, und dem Westen ist das Thema eh zu heikel: Der palästinensische Regisseur George Khleifi kämpft seit Jahren für bessere Bedingungen des Films in den besetzten Gebieten. Und chronischer Geldmangel ist noch nicht mal sein größtes Problem. Ein Interview  ■ von Peter Braschler

George Khleifi, 1947 in Nazareth geboren, absolvierte die Film- und Fernsehschule INSAS in Brüssel. Er arbeitete für französische und belgische Fernsehstationen und für ATP Jerusalem. Filme u.a. „The Land of Sand and Sea“ und „The Stone Throwers“. Khleifi ist Co-Gründer und künstlerischer Leiter des „Jerusalem Film Instituts“ und Organisator der „Film Nights Jerusalem“.

taz: Vor zwei Monaten sollte ein Theaterfestival in Nablus beginnen. In der Eröffnungsnacht bedrohten Unbekannte die Organisatoren. Das Festival wurde abgebrochen und verschoben. Was bedeutet ein solcher Vorfall für die Kultur innerhalb der palästinensischen Gesellschaft?

George Khleifi: Während der letzten beiden Jahre gab es in unserem Kulturleben zwei Besonderheiten: Zum einen interessieren sich immer mehr Menschen für Kultur – für Literatur, Malerei, Theater und auch Film. Gleichzeitig gibt es die Tendenz, kulturelle Aktivitäten zu unterbinden. Viele Leute sehen darin einen Zusammenhang mit der Stärke der islamischen Strömung in der palästinensischen Bevölkerung. Es ist sehr deutlich und die Islam-Gläubigen machen auch gar kein Hehl daraus, daß sie gegen bestimmte Formen der Kultur sind, die sie als unwichtig und importiert betrachten. In ihren Augen wird gegen die islamische Kultur ein Krieg geführt, der nie beendet wurde. Dieser Krieg hat seine Ursprünge besonders in der westlichen Welt. Jedes kulturelle Phänomen, das seine Wurzeln in der westlichen Kultur hat, wie Film und Theater, gilt als Bestandteil dieses Krieges.

Es sind vier schwerere, aber bisher isolierte Angriffe gegen kulturelle Aktivitäten bekannt geworden: Junge Maskierte haben Drohungen ausgestoßen, die dazu führten, daß letztes Jahr in Ramallah eine Frauenfilmwoche abgebrochen wurde. In Jericho wurde Ende 1992 das neu erbaute Kulturzentrum in Brand gesteckt. Drohungen von Maskierten hatten den Abbruch des Theaterfestivals in Nablus zur Folge, den Sie erwähnten. Der Brand eines Kinos in Nablus zwei Tage später hat eine Filmgruppe in Jenin, die eine Filmwoche organisieren wollte, zum Aufgeben veranlaßt. Das war praktisch eine Botschaft an alle kulturellen Gruppen. Niemand hat bisher die Verantwortung für diese Vorfälle übernommen.

Wir können keine politische Partei verantwortlich machen. Aber diese Methoden schaffen eine Atmosphäre der Unsicherheit und der versteckten Drohungen gegen ein freies Kulturleben. Noch gibt es solche Angriffe nur vereinzelt. Hier in Jerusalem kann jede kulturelle Aktivität öffentlich stattfinden und niemand sagt etwas dagegen. Wir hatten letztes Jahr unsere Filmnächte und die Leute mochten den einen oder anderen Film nicht. Sie sagten sogar ziemlich schlimme Dinge über einige Filme, aber niemand versuchte, einen Film oder gar das Festival zu verhindern. Aber wenn die Versuche der Einschüchterung häufiger werden, müssen Kräfte aus verschiedenen politischen Lagern einschließlich der islamischen Bewegung eine öffentliche Diskussion führen, um die Freiheit der Rede und den freien kulturellen Ausdruck zu bewahren.

Ich hoffe, eine Gesellschaft, die wie die palästinensische an offene Diskussionen gewöhnt ist, wird die Gefahr verstehen, wenn solche Ereignisse sich häufen.

Als künstlerischer Direktor des Filminstituts von Jerusalem haben Sie begonnen, Filmnächte für die Palästinenser in Jerusalem, am Westufer und im Gaza-Streifen zu organisieren. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Es gibt seit langem ein kulturelles Angebot der israelischen Behörden, aber auch das arabische Fernsehen, das wir hier empfangen können. Diese arabischen Fernsehstationen senden nur die offizielle Kultur, das offizielle Drama, Literatur, Filme etc. Es gibt außerhalb der kommerziellen und offiziellen Kreise ein sehr gutes arabisches Kino. Man kann es überall finden, von Marokko im Westen bis zum Irak im Osten. Aber es ist schwierig, es hierher zu bringen. Ein weiteres Problem besteht darin, daß wir [das Jerusalemer Filminstitut] eine kleine Organisation in einer armen Gesellschaft mit vielen Problemen sind. Nach 25 Jahren der israelischen Besetzung sind Gaza und das Westufer inzwischen gefährlich unterentwickelt. Daher erscheinen wir den Leuten, die wir um Hilfe bei der Organisation eines Filmfestivals bitten, wie Marie-Antoinette, die gesagt hat: ,Wenn die Menschen kein Brot haben, warum essen sie dann keinen Kuchen.‘ Film und Kultur wirkt auf Ausländer und Einheimische wie Kuchen.

Die Sprache dieses Jahrhunderts ist audiovisuell und wir kommen in das 21. Jahrhundert. Man kann nicht behaupten, man sei ein Volk, das nach seiner kulturellen, nationalen Identität sucht, ohne über diese Sprache nachzudenken. Aber in der Realität können wir nicht jeden überzeugen. Wir arbeiten mit einem Festivalbudget von nicht einmal 40.000 Dollar. Wir können weder Leute einladen noch viele Filme vorführen; wir können noch nicht einmal mit 35-Millimeter-Kopien arbeiten – aus dem einfachen Grund, daß wir nicht die Ausrüstung haben, um 35 Millimeter vorzuführen. Deshalb müssen wir mit Videokopien arbeiten. Aber es ist wichtig, daß die Menschen die kulturelle Breite der arabischen Welt kennenlernen.

Wie sind die Reaktionen auf Ihre Bitten um Unterstützung bei westlichen Filminstitutionen, Stiftungen oder Regierungen?

Meistens sagen sie: „Uns gefällt Ihr Projekt, aber es entspricht nicht unseren Kriterien.“ Ihre Prioritäten sind gewöhnlich öffentliche Gesundheit, Ausbildung, ökonomische Entwicklung. Es ist sehr schwierig für uns, mit ihnen zu diskutieren, weil es ja stimmt, daß diese Sektoren in Palästina viel Hilfe brauchen. Wir versuchen einfach, sie zu überzeugen, daß die Kultur ebenso wichtig ist wie die öffentliche Gesundheit. Letztes Jahr haben uns Leute aus Dänemark geholfen, von internationalen Medienorganisationen, weil es eine palästinensische Filmwoche war, die erste überhaupt in der Geschichte Jerusalems. Dieses Jahr ist die Reaktion weniger enthusiastisch, weil es nicht um den palästinensischen, sondern den arabischen Film geht. Wenn sie sagen, die arabischen Länder sollten uns helfen, haben sie ja recht, aber es ist sehr schwierig, mit denen in Kontakt zu kommen.

Worin bestehen diese Schwierigkeiten?

Die Widersprüche innerhalb der arabischen Welt sind sehr groß. Wenn Sie in arabische Länder kommen, treffen Sie sehr skepti

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sche Leute, die Sie fragen, warum Sie hier sind, wo Sie herkommen. Es gibt eine psychologische Barriere zwischen uns und der arabischen Welt, weil wir seit 25 Jahren unter israelischer Besetzung leben. Offiziell wird einfach nicht reagiert. Man kann mit arabischen Ländern nicht reden, sie antworten einfach nicht.

Können Sie mir etwas über die Situation von Filmemachern sagen, erstens im Lande selbst und zweitens von Leuten, die das Land verlassen haben?

Die Geschichte des palästinensischen Films begann in den siebziger Jahren unter dem Dach der PLO. Erste Filmemacher waren Ghaleb Shaath und Qays Zubaideh, die in Jordanien, im Libanon und in Ägypten drehten. Sie schafften es, Filme zu produzieren, die sehr respektabel über die palästinensische Erfahrung in der Diaspora sprachen. In den 80ern, nach Beirut, gingen all diese Bemühungen kaputt. Wer sich mit Film beschäftigen wollte, mußte ins Ausland gehen. Zum Beispiel studierte Nahtem Shredi von Um-el-Fahem, der bereits zwei, drei Filme gemacht hat, in Prag. Michel Khleifi und ich studierten in Brüssel, Hannah Elias in Los Angeles und Eli Suleiman in New York. Andere gingen nach Ostdeutschland.

Hier wurde vor drei Jahren die Al-Quds-Fernsehproduktion gegründet. Sie sind mehr an TV und Video interessiert als an Film. Die Mitarbeiter sammeln Erfahrungen und Beziehungen zu Fernsehsendern und Medienorganisationen im Westen. Und dann gibt es noch das Jerusalemer Filminstitut, das seit fast zwei Jahren besteht. Wir versuchen, Strukturen für den Film zu schaffen. Vor allem versuchen wir, ein Archiv anzulegen und Leute für das Fernsehen und den Film auszubilden.

Aber man kann Filme kaum noch zeigen. Selbst die Kinos am Westufer, im Gaza-Streifen und im arabischen Sektor Israels sind geschlossen worden. Anfang der achtziger Jahre war es nicht sehr sicher, das Haus bis neun oder zehn Uhr abends zu verlassen. Die Leute fanden es einfacher, eine Kassette auszuleihen und den Film zu Hause zu sehen. Natürlich stehen als Kassetten nur die kommerziellen ägyptischen Filme zur Verfügung, die meistens keine guten Filme sind.

Film ist teuer. Wie muß man sich die Realisierung eines Projekts vorstellen und wie lange dauert es vom Beginn eines Projekts bis zur ersten Vorführung?

Nehmen wir ein Beispiel: Michel Khleifis „Wedding in Galilee“. Das Drehbuch war 83 fertig. Mitte 86 begannen wir zu drehen. Diese drei Jahre gingen in der Hauptsache dafür drauf, Geld aufzutreiben. Man geht überall hin. Man geht zum Fernsehen, zu Stiftungen, man geht zu Kulturministerien in Europa. Für uns ist das aus vielen Gründen sehr langwierig. Zunächst mal sind wir unbekannte Leute und unbekanntes Kino, zweitens ist die israelisch- arabische Frage sehr heikel, und deshalb unterstützen die Leute in Europa und Amerika unsere Filmprojekte nur sehr zögernd. Auf jeden Fall kann man noch nicht einmal davon träumen, von der arabischen Seite finanziert zu werden. Die arabische Welt ist gegenüber der Kultur nicht wirklich offen. Über die PLO habe ich schon gesprochen. Sie und das Volk haben andere Prioritäten.

Gibt es überhaupt Träume in der jungen Generation, sich der Kunst zuzuwenden oder lauten die Prioritäten eher: gute Ausbildung und ein Job?

Film und Theater sind in unserer Lage nicht gerade rentabel. Man kann sich kaum seinen Lebensunterhalt damit verdienen. Deshalb muß jeder, der kostspielige Kunst machen will, ob nun Theater oder Film, sehr genau nachdenken. Seine Entscheidung bedeutet ein sehr unruhiges Leben, finanziell und sozial. Er muß sogar damit rechnen, daß er keine Familie gründen kann wie jeder andere. Wenn er einen Film macht und deshalb ein oder zwei Jahre durch Europa und Amerika reisen muß, wie kann er dann eine Familie und Kinder haben? Aus diesen Gründen denken die Jungen nicht wirklich über die Kunst nach, wenn sie die Schule beenden. Sie wollen Anwälte oder Ärzte sein, Professoren werden oder Geschäftsleute. Aber es gibt doch immer wieder Einzelne, die das Risiko eingehen. Deshalb haben wir palästinensisches Kino, deshalb haben wir in unserem Archiv etwa 35 Filme, die von Palästinensern gemacht sind. Deshalb haben wir Michel Khleifi mit seinem internationalen Ruf.

Haben die derzeitigen Friedensverhandlungen eine Auswirkung auf das kulturelle Leben hier?

Ich habe nicht den Eindruck, daß die Zeit dafür schon ausgereicht hat. Die Friedensverhandlungen begannen sehr spektakulär in Madrid, aber sie haben den Alltag nicht beeinflußt, weil wir verstanden haben, daß es sich um einen sehr langen Prozeß handelt, der mehr Frustrationen als Erfolge bringt. Der Dialog zwischen Juden und Arabern hatte immer seinen Einfluß auf die palästinensische Kultur, besonders in der Literatur. Aus dem simplen Grund, daß Literatur, Poesie, Romane verbreiteter sind als Filme und Theater. Aber selbst im Film und Theater war der Dialog zwischen Juden und Arabern immer gegenwärtig.

Film und Theater haben nicht nur materielle Probleme. In einer Gesellschaft, die für sehr lange Zeit unter solchen Spannungen lebt, fragt sich der Künstler: Soll ich Fragen behandeln, die sozial und philosophisch für unsere Gesellschaft sehr wichtig sind, oder ist es nicht die richtige Zeit zur Kritik, weil wir jetzt vor allem Einheit brauchen, um gemeinsam unsere politischen Ziele zu erreichen? Die politischen und sozialen Widersprüche innerhalb unserer Gesellschaft sind sehr groß, und wenn sie begännen, sich wirklich auf diese Widersprüche einzulassen, könnte das für die Einheit der Gesellschaft sehr gefährlich werden. Diese Situation schafft in jedem schöpferischen Menschen eine Situation der Selbstzensur.

Viele versuchen, sich nicht zu weit von den Meinungen und Analysen zu entfernen, die bereits in der Gesellschaft existieren. Deshalb haben die meisten Filme und Theaterstücke politische Wirkung. Oder sie wiederholen, was jeder in der Gesellschaft sagt, und daraus ergibt sich eine Situation, in der Film und Theater keine Avantgarde bilden können, nicht weitergehen können als die Gesellschaft, die Gesellschaft nicht überraschen können durch neue Themen, neue Horizonte, durch eine frische und protestierende Sichtweise. Das Publikum ist daran nicht interessiert, weil das Publikum Dinge sehen will, die es bereits kennt. Das ist eine Krise, vor der im Moment besonders das Theater steht. Der Film weniger, weil er meistens von Filmern gemacht wird, die im Ausland leben, beeinflußt durch die Tatsache, daß sie nicht täglich mit ihrem Publikum zu tun haben. Und vielleicht, weil ein Film ein Film ist: Man kann einen Film in die Hand nehmen und überall vorführen. Dazu braucht man keine Schauspieler, nicht einmal den Filmemacher. Deshalb kann sich der Filmemacher erlauben, Sachen zu sagen, die das Theater nicht auszudrücken wagt. Aber dieser Konflikt hier dauert bereits hundert Jahre, und die Menschen müssen beginnen zu verstehen, daß sie sehr wichtige Fragen über ihre Gesellschaft nicht ewig verschieben können, indem sie auf eine politische Lösung der Situation warten.

Trotz der Diskussionen in Madrid und hier wird die Politik auf lange Zeit die beherrschende Kraft sein, auch wenn wir unseren eigenen Staat haben. Wenn man sich als Künstler dem unterwirft, wird man immer Theater oder Filme machen, die nicht neu, nicht frisch sind. Es ist nicht leicht, wenn man sieht, was in Nablus passierte. Man braucht viel Mut, um für seine künstlerischen Überzeugungen einzutreten. Aber noch mehr als Mut braucht man Klarsicht, um mit den Menschen zu diskutieren und sie zu überzeugen und sich mit Kräften auseinanderzusetzen, die vorfabrizierten Ausdruck ohne jede Überraschung vorziehen oder mit Kräften, die am liebsten jeden kulturellen Ausdruck verhindern wollen. Wenn unsere schöpferisch Tätigen wirklich frei würden – es ist einfach diese innere Zensur, dieses Zögern, nicht die Einheit unseres Volkes zu gefährden – wenn unsere Künstler sich von der Empfindung befreien, daß Freiheit die Einheit des Volkes bedroht, dann, glaube ich, werden sie sehr gutes Theater und gute Filme schaffen. Dann wird der Kampf mit den Kräften der Finsternis, die alle Ausdrucksformen in einen sehr begrenzten Rahmen sperren wollen, für uns viel leichter sein.

Aus dem Englischen von Meinhard Büning

Der Autor Peter Braschler ist Regisseur und Theaterleiter der interkulturellen Theatertruppe Maralam in Zürich. Zur Zeit arbeitet er in einem dreijährigen Koproduktionsprogramm mit ASHTAR Jerusalem für Theaterworkshops und -produktionen.