Fast-Shakespeare

■ Robert Lepages "Rapid Eye Movement" in München

Es war ein Wochenende, an dem alles zusammenkam: der Kirchentag mit Fluten von Jugendlichen und einsam-eifernden Predigern in den Fußgängerzonen, der Aufstieg der Münchner Löwen in den Fußballhimmel zweiter Klasse, und der Beginn des internationalen Wanderfestivals „Theater der Welt“. Zwar fallen Theatergläubige inmitten von Kirchenfans und Fußballmassen kaum auf, vor der Kasse war das Gedränge dann aber doch groß. Da wurde um Karten gerungen, wie anderswo um verlorene Seelen und einen Lederball, vor allem wenn Peter Brook in die Stadt kommt, der Altmeister des Welttheaters, der immer wieder zeigt, mit welch geringem Aufwand grandioses Schauspiel auf die Bühne gebracht werden kann. Während sein „L'homme qui“ (Besprechung am 15.6.) im kleinen Theater am Marstall zu sehen war, machte gleich nebenan das neue frankokanadische Wunderkind Robert Lepage seine Aufwartung. Mit einer Uraufführung als Eigenproduktion des schicken Residenztheaters.

„Rapid Eye Movement“ nennt er seine Shakespeareträume, obwohl der erste Arbeitstitel für sein Tryptichon „Map of Dreams“ besser bezeichnete, was er da ohne Rücksicht auf Verluste zusammenspannte. Lepage ist ein hochgelobter Shakespeareverwerter auf dem Laufsteg der Theatermoden, in Frankfurt konnte man vor kurzem seine Schnelldurchläufe des „Coriolan“, „Macbeth“ und „Sturm“ sehen. Jetzt, da er zum ersten Mal in Deutschland inszeniert hat, meinte man, er werde eine Shakespeare- Collage zaubern (wo doch so viel vom „Zauberkünstler“ Lepage gesprochen wird), einen Bildentwurf mit Traumsequenzen aus dem „Sommernachtstraum“, „Richard III“ und „Der Sturm“. Allerdings, es kam anders und wesentlich küchenpraktischer als erwartet: Lapidar montierte Lepage ein szenisches Menue mit Kurzfassungen der drei Stücke aneinander, als ginge es darum, fernsehgeschädigte Kids häppchenweise an's Theater zu gewöhnen.

Im Zentrum steht als längste Sequenz der „Sommernachtstraum“, und wer womöglich zu spät gekommen war, hätte versucht sein können, vorbehaltlos vom Zauberer Lepage zu sprechen. Denn was er da in der Mitte anbietet, ist tatsächlich imposantes und die Vorlage zersplitterndes Bildertheater, als hätten Savary und Castorf gemeinsam inszeniert. Da turnt Guntram Brattia als Puck (und Münchner Version von Lepages Londoner Darstellerin, die dort als Schlangenmensch den Puck gab) an einem Seil bis schier in den Schnürboden, hängt wie ein Zirkusartist kopfüber und schafft es dennoch, witzig und intelligent dem Shakespearetext Nuancen zu entlocken.

Zusammen mit Wolfgang Bauer (Oberon) bildet er ein unglaubliches Gespann, das schlammverschmiert aus den Tiefen der Bühne hervorbricht und mit Affenmotorik ein zusammengeschweißtes Paar abgibt – man möchte sich loswerden, braucht sich aber. Bei Titania hört man zwar keine sprachliche Feinzeichnung wie bei Puck, dafür schwebt sie aber wie eine sich entpuppende Spinne aus der Höhe herunter, während Lepage die Wirren im Athenerwald über einen Webstuhl inszeniert, der die Akteure wie eine horizontale Drehtür ausspuckt und aufsaugt. Bei Lysander, Hermia, Demetrius und Helena beginnen zwar schon die Zweifel an Lepages Bühnenkunst, da er sie in seinem Fast-Shakespeare allzuoft über den Text weghecheln läßt. Wie sie aber in schnellem Spiel durch den Wald jagen, wie Puck dem armen Zettel auf dem Rücken hängt und aus seinen Füßen die Eselsohren von Zettel werden, das ist so stimmig und phantasievoll, daß man darüber hinwegsieht – vor allem auch, weil Michael Vogtmann am Ende dann doch einen derart betrogenen und seinem Traum hinterhersinnenden Zettel spielt, daß man sich fragt, warum Lepage nicht nur den „Sommernachtstraum“ inszenierte.

Aber er wollte eben unbedingt ein Triptychon. Und so klatschte er vor sein Kernstück einen „RichardIII“, mit dem er in 45 Minuten alles und nichts zeigt, während sich mit seinem „Sturm“ der Traum vom Wunderkind aus den Weiten Kanadas austräumt. Denn da steht ein Prospero auf der Bühne, als seien gleichzeitig ein Oberlehrer aus Detmold und Dracula aus Transsilvanien angereist, während Miranda mal kurz zu Ariel und Ferdinand zu Caliban wird. Gleich in doppelter Ausführung schickt Lepage Dr. Jekyll und Mr. Hide auf die Bühne, aber alles ist nur inszenatorisches Kalkül und biederstes Schauspiel.

Sicher, auch in „RichardIII“ und „Der Sturm“ gibt es helle Momente. Rufus Beck könnte als Richard wohl auch bestehen, wenn er in einer Langversion das klüftige Seelenleben des Tyrannen spielen müßte. Im „Sturm“ ist aus dem Drehwebstuhl eine Drehtafel geworden, mit dem Spiegel auf seiner Rückseite gelingt Lepage ein schönes Bild der schlafenden Miranda. Alles in allem ist das Schlußstück aber eine halbherzige Kopfgeburt, der mißglückte Versuch, die zwei Seiten einer Medaille zu inszenieren. Miranda verwandelt sich nur einmal in einen euphorisiert-enthemmten Ariel, und Ferdinand darf auch nur kurz ein faunisch-bestialischer Caliban sein. Ansonsten ist der „Sturm“ nichts anderes als die rührselige Liebesgeschichte zweier Jungverliebter mit einem sittenstrengen Vater namens Oberon. Und Lepage? Er hat innerhalb kürzester Zeit die meisten der großen Shakespearestücke durch die Theatermaschine gedreht und steht im Moment wohl etwas atemlos neben dem Fleischwolf. Jürgen Berger

Robert Lepage nach Shakespeare: „Rapid Eye Movement“. Regie: Robert Lepage. Bühne: Robert Lepage, Christian Schaller. Kostüme: Nina Reichmann. Mit Guntram Brattia, Wolfgang Bauer u.a. Bayerisches Staatsschauspiel. Weitere Vorstellungen im Residenztheater: 10., 13., 15., 17., 21. Juli