Vom Tribunal zum Tode verurteilt

■ Herbert Tschirner war am 17. Juni Ingenieur im Konstruktionsbüro VEB Lokomotiv- und Waggonbau in Görlitz

taz: Herr Tschirner, Sie wurden 1953 zum Tode verurteilt. Von wem und warum?

Tschirner: Am Vormittag des 17. Juni gingen die Demonstrationen in Görlitz los, am Nachmittag wurde das Kriegsrecht verhängt, und am Abend wurde ich aus dem Bett heraus von sowjetischen Soldaten verhaftet. Ich kam nach Radebeul bei Dresden, und die Verhandlung vor einem sowjetischen Militärgericht fand schon zwei Tage später am 19. Juni statt. Ein Arbeitskollege, mit dem ich befreundet war, denunzierte mich als amerikanischer Geheimdienstmann. Die Verhandlung dauerte nur zehn Minuten und endete mit dem Todesurteil. Die Begründung lautete: Rädelsführer, konterrevolutionäres Verbrechen und Spionage für die USA.

Stimmten die Vorwürfe?

Wenn einer Rädelsführer ist, weil er in der ersten Reihe marschiert, dann stimmte dieser Vorwurf. Aber das war purer Zufall, denn ich gehörte als Ingenieur zu den „Weißkitteln“, die von den Arbeitern immer mißtrauisch beäugt wurden. Vom Balkon aus sahen wir, daß sich die Arbeiter im Hof versammelten und riefen: „Ihr Weißkittel kommt runter, solidarisiert Euch.“ Das haben wir gemacht und wollten mit dem kleinen Zug des Werkes 1 in unser Hauptwerk Werk 2 laufen und dann zum Oberbürgermeister, damit der die Forderung nach der Rücknahme der Normenerhöhung nach Berlin weiterleitet. Als wir Richtung Werk 2 unterwegs waren, kam die große Menge schon an. Wir drehten wieder um, und so geriet ich plötzlich an die Spitze.

Fühlten Sie sich als Anführer?

Wir haben natürlich vorne ein bißchen Ordnung gemacht, damit wir nicht wie eine Hammelherde auf den Marktplatz trampelten. Es kamen ja immer mehr, auf dem Platz waren wir dann etwa 20.000 Leute. Noch während wir liefen, wurde die Normenrücknahmeforderung ergänzt. Die unerträglich hohen HO-Preise sollten gesenkt werden. Erst auf dem Marktplatz ertönte die Forderung nach gesamtdeutschen, freien Wahlen. Als Ausdruck der Gemeinsamkeit sangen viele sowohl die dritte Strophe des Deutschlandliedes als auch die DDR-Nationalhymne. Ich verabredete mich mit Kollegen für den nächsten Tag. Wir wollten Nägel mit Köpfen machen, und der Oberbürgermeister hatte sich geweigert, die Forderungen nach Berlin weiterzuleiten. Aber dazu kam es nicht mehr. Mein Kollege hatte mich ja schon angeschwärzt.

Die sowjetische Militäradministration verhängte insgesamt 18 Todesurteile. 17 wurden vollstreckt. Wieso hatte Ihr Gnadengesuch Erfolg?

Weil es nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine geheimdienstliche Tätigkeit gab. Das war ein völlig abstruser Vorwurf. Von der Umwandlung des Todesurteils in 20 Jahren Arbeitslager hörte ich Ende August auf der Kommandatur in Potsdam. Denn von Radebeul war ich in ein bis heute noch unbekanntes Kellergefängnis – wir nannten es „Witwenhaus“ – nach Potsdam gekommen. Ende Oktober wurde ich nach Brest-Litowsk verfrachtet, nur um dort zu hören, daß ich meine Strafe in Bautzen abarbeiten muß. Mir wurde eine Glatze rasiert und ein großes X auf den Rücken geheftet. Politische Häftlinge sollte man gleich erkennen. Der schlimmste Peiniger war dort ein Mann, namens Eggert, den die Sowjets wegen Naziverbrechen eingesperrt hatten und der jetzt auf Schönwetter machte. Nach 10 Jahren und 4 Monaten Haft wurde ich von der Bundesregierung freigekauft.

Welche Bedeutung hat für Sie der 17. Juni heute?

Der 17. Juni war der erste und einzige wirkliche Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Die Revolution 1989 ist nur deshalb friedlich geblieben, weil weder Gorbatschow noch die Armee das marode Regime stützen konnten und wollten. Die Bonner Feiertagsreden stimmten mich immer bitter. Als politische Häftlinge des Stalinismus war alleine unsere Existenz wegen der Entspannungspolitik störend. Die Politiker redeten immer groß vom Podium herunter, wir hockten in der letzten Ecke. Man hat uns immer nur geduldet, nie geliebt. Interview: Anita Kugler