Die Revolte am 17. Juni rettete Walter Ulbricht

■ Moskauer ZK-Protokoll übersetzt

Gab es Frühjahr 1953 in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Parteiführer, die bereit waren, die DDR um den Preis der Neutralität eines wiedervereinten Deutschland zu opfern? Standen diese „Liquidatoren“ in Verbindung mit Gesinnungsgenossen in der SED? War es der Aufstand des 17. Juni, der dieser politischen Linie den Boden unter den Füßen wegzog? Als Lawrenti Berija, der einst allmächtige Sicherheitschef, bereits verhaftet und hingerichtet war, beschuldigten ihn die Sieger im Machtkampf auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees im Juli 1953 dieses Verbrechens.

Malenkow, Chrustschow und Molotow führten auf dem Plenum, dessen Wortprotokoll jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt, aus, daß Berija sich mit einem „friedlichen“ Deutschland hätte begnügen wollen. „Ob es dort einen Sozialismus geben wird oder nicht, kann uns egal sein.“ Auch Molotow hat später, lange Jahre nach seinem Sturz, in seinen „140 Gesprächen“ Berija diese Position zugeschrieben. Nach Molotow war die Kommunistische Partei der Sowjetunion, tief beunruhigt über die sich mehrenden Krisenerscheinungen in der DDR, daran gegangen, ein Dokument für einen gründlichen Kurswechsel auszuarbeiten. Der Kernsatz des Entwurfs lautete: „Es ist keine forcierte Politik zum Aufbau des Sozialismus in der DDR zu betreiben.“ Berija habe sich vehement dafür eingesetzt, das Wörtchen „forciert“ zu streichen. Nach wochenlangem Tauziehen habe Molotow erst Chrustschow, dann Malenkow auf seine Seite ziehen können. Berija sei im Parteipräsidium (so hieß damals das Politbüro) unterlegen.

Bis jetzt sind keinerlei Akten veröffentlicht worden, die Berijas eigene Position dokumentieren. Es kann sehr wohl sein, daß seine Ankläger nach dem Aufstand des 17.Juni eine Legende konstruierten, nach der sie selbst aufrechte Verteidiger des Sozialismus in der DDR, Berija hingegen sein Verräter gewesen wäre. In diesem Zusammenhang ist der schließliche Beschluß der Parteiführung (und danach der sowjetischen Regierung) zur Kurskorrektur in der DDR ebenso aufschlußreich wie die Reden auf dem ZK-Plenum Anfang Juli. Beide Dokumente zeichnen ein ungeschminktes Bild der verheerenden Lage, die in der DDR entstanden war, nachdem Mitte 1952 „der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ verkündet worden war.

Wenn Berija angesichts der Flucht von einer halben Million Menschen davon sprach, die Staatsmacht der DDR stütze sich nur auf die sowjetischen Besatzungstruppen, so war er nicht allzu weit von der Einschätzung seiner Präsidiumskollegen entfernt. Auch die verächtliche Schärfe, mit der Berija die Anfang Juni zum Befehlsempfang angetretene deutsche Delegation (Ulbricht, Grotewohl, Oelssner) behandelte, hat sicher der sowjetischen Gefühlslage entsprochen. Aber die Instruktionen der Sowjets, die die SED prompt (am 9.Juni) als „Neuer Kurs“ proklamierte, lassen nirgendwo erkennen, daß es um die Existenz der DDR ging. Was auf dem Spiel stand, war die Position Ulbrichts. Ihn hat der 17.Juni tatsächlich gerettet.

Der neu ernannte sowjetische Hohe Kommissar in der DDR, Semjonow, griff - als Teilnehmer der Politbüro-Sitzung der SED zu Anfang Juni - keineswegs ein, als sich die Mehrheit der PB-Mitglieder gegen Ulbricht wandte. Rudolf Herrnstadt und der Stasi-Chef Wilhelm Zaisser, beide Kritiker des administrativ-bürokratischen Herrschaftsstils Ulbrichts, standen als Führungsreserve bereit. Es gibt bisher keinerlei Beweismaterial, aus dem hervorgehen würde, daß Herrnstadt und Zaisser in Verbindung mit Berija gestanden hätten. Die beiden deutschen Kommunisten waren völlig linientreue Apparatschiks, für die „Fraktionismus“ gleichbedeutend war mit vollständigem Verrat an der Partei. Der Vorwurf der Konspiration mit dem „Erzrenegaten“ Berija ist zwar von Ulbricht erhoben worden, aber Zaisser und Herrnstadt wurden nach dem 17.Juni „nur“ wegen „Kapitulantentums“ und „Sozialdemokratismus“ ausgeschaltet. Christian Semler