Vernunft und Müdigkeit

Ethnozentrisch will die Vernunft nicht mehr sein, den großen Konsens traut ihr keiner mehr zu. Eindrücke vom Hegel-Kongreß  ■ Von Rüdiger Zill

Stuttgart ist die Stadt Hegels. Wenn man durch die Einkaufszone schlendert, wird man irgendwann unvermeidlich über sein Geburtshaus stolpern. Ein großer Sohn der Stadt braucht ein Museum.

Ein großer Sohn der Stadt braucht auch einen Kongreß. Deshalb veranstaltet die Internationale Hegel-Vereinigung ihre Tagungen auch in der schwäbischen Daimlermetropole. Alle sechs Jahre versammelt man hier möglichst renommierte Namen, aber auch Jung-Hegelianer, um ein zentrales Thema der Gegenwartsphilosophie zu verhandeln.In diesem Jahr ging es um die „Vernunftbegriffe in der Moderne“.

In einer eher versteckten Sektion, dem „Forum Editionsforschung“ machte der Engländer Barry Smith (Liechtenstein/Buffalo) auf eine kulturelle Differenz zwischen der angelsächsischen und der kontinentalen, speziell auch der deutschen Philosophie aufmerksam. Zu den großen Denkern der kontinentalen Tradition gibt es eine Unzahl von Kommentaren, zu den englisch-amerikanischen aber so gut wie überhaupt keine. Dieser äußere Unterschied verweise, so meint Barry Smith, auf eine fundamentale Verschiedenheit im Denkstil. In der angelsächsischen Philosophie stehe das einzelne Problem im Vordergrund. Sie isoliere daher die Fragen, verfahre atomar. Für das kontinentale Denken stehe hingegen der einzelne Autor im Zentrum. Sie verfahre holistisch. Einzelne Sätze, selbst isolierte Begriffe blieben unverständlich, wenn man sie nicht aus dem Ganzen des Textes oder sogar des Werks erschließe. Philosophiert werde oft im Anschluß an die meditative Versenkung ins Werk eines großen Meisters.

Daher ist es auch kein Wunder, wenn die zentralen Probleme gegenwärtiger Philosophie bei uns auf einem Hegel-Kongreß diskutiert werden. Und das – sollte man meinen – mit gutem Grund. Denn gerade der deutsche Idealismus und insbesondere Hegel steht ja für einen starken Vernunftbegriff, der die Einheit der Wirklichkeit konstituieren soll. Andererseits hat gerade auch der Vernunftbegriff in den letzten Jahrzehnten heftige Auseinandersetzungen ausgelöst. In Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ wird das Anwachsen der Vernunft mit Herrschaft und Unterdrückung assoziiert. Und in dem, was man sich im weitesten Sinne die Postmoderne zu nennen angewöhnt hat, wird das Recht des Einzelnen und Ephemeren gegen eine totalisierende Vernunft eingeklagt.

Aber der Gegensatz, hier die wackeren Heroen der Vernunft, dort die postmodernen Revoluzzer unter dem Banner von Dekonstruktion und Postmoderne, ist ohnehin eine Stilisierung, denn die Verfechter des Vernünftigen haben sich selbst längst von einem übersteigerten Begriff der Vernunft verabschiedet. Es geht nicht mehr darum, im Wirklichen das Vernünftige zu entdecken. Es geht vielmehr darum, verschiedene Vernunftformen zu unterscheiden. Hegels absoluter Geist ist kein Thema mehr.

So hat man fast den Eindruck, daß sich die Internationale Hegel- Vereinigung ihres Namenspatrons ein wenig schämt. In der dreiseitigen Einleitung zum Programmheft des Kongresses wird die Spannweite des Themas erläutert, ohne daß auch nur einmal (!) der Name Hegels fiele.

Dennoch richtete sich das Interesse nicht allein auf die Feindifferenzierungen einzelner Teilrationalitäten. Die Frage nach der Einheit und Pluralität der Vernunft stellt sich weiterhin. Ram Adhar Mall (Bremen) wandte sich gegen einen ethnozentrischen Vernunftbegriff, den der einen und einheitlichen Vernunft, der aus dem griechischen Logos entsprungen ist. Dennoch warnte er andererseits auch vor einer radikalen Relativierung, die jeder Kultur eine eigene insuläre Rationalität zuschreibt. Das Ergebnis solch einer Partialisierung wäre die völlige Unmöglichkeit von Kommunikation, die letztlich auch wieder die Macht des Stärkeren zur Folge hätte. Mall plädierte für Rationalitäten, die auf dem Boden der jeweiligen Kulturen erwachsen, die sich aber „überlappen“ und somit zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Sein Kollege Ryosuke Ohashi aus Kyoto stimmte ihm da auf seine ganz eigene Art zu. Die Japaner hätten viel vom europäischen Logos in sich aufgenommen, seien dabei aber immer ihrer eigenen Kultur treu geblieben: „Japan ist in der Hardware europäisiert, in der Software bleibt es japanisch.“

Am Nachmittag des nächsten Tages versuchte Wolfgang Welsch, sein Konzept der transversalen Vernunft ein wenig weiter voranzutreiben. Seine Ausführungen wiesen eine große Ähnlichkeit mit denen Ram Adhar Malls auf. Auch Welsch ging von einer Vielzahl von Rationalitäten aus, die oft in einem fundamentalen Dissens zueinander ständen. Doch auch er wandte sich gegen eine insulare Existenz dieser einzelnen Paradigmen. Sie seien auf vielfältige Art miteinander verflochten. Die Vermittlung der separaten Rationalitäten müsse darüber hinaus durch eine andere Instanz, die Vernunft, geleistet werden. Diese müsse ihren Blick auf das Ganze richten, ohne seine Teile in eine Einheit zu zwingen. Sie reflektiere vielmehr die Übergänge. Diese vergleichsweise schwache Vernunft leugne nicht die Bedeutung der Kommunikation, betone aber ihre Schwierigkeiten. Sie mache die Gründe transparent, warum der letzte Konsens unmöglich sei. Das neue positve Leitbild müsse aber die Idee der Gerechtigkeit sein.

An Problemen der Moral und der Gerechtigkeit orientierte sich in der gleichen Sektion auch Martha Nussbaum (Riverside). Sie versuchte, einen drohenden Relativismus im Namen einer neo-aristotelischen Konzeption zu bannen. In Autoren wie Stanley Fish und Jacques Derrida entdeckte sie ein Revival des antiken Skeptizismus. Deshalb versuchte sie die zeitgenössischen Autoren zu widerlegen, indem sie die antiken Positionen, die sie als die differenzierteren bezeichnete, sezierte. Die Quintessenz ihrer Überlegungen: Die Ablehnung aller Argumentation überantwortet unsere Entscheidungen einem willkürlichen Spiel äußerer Kräfte, das letztlich auch wieder in das Recht des Stärkeren mündet. Sowenig man dieser These widersprechen kann: Ob man die Anatomie des griechischen Denkens auf das dekonstruktivistische von heute wirklich projizieren kann, bleibt mehr als fragwürdig.

Man kann diese Überlegungen sympathisch finden oder nicht. Sie alle haben einen wesentlichen Mangel: Sie bleiben Programmphilosophie. Die Konzepte bewähren sich selten in den konkreten Details. Erst wenn Ram Adhar Mall zeigen kann, wie die Überlappungen der Vernunft wirklich zustandekommen, erst wenn Welsch oder Nussbaum plausibel darstellen können, wie der Begriff der Gerechtigkeit auf die eine oder andere Weise zum Leitbild werden, kann das Programm seine Fruchtbarkeit erweisen.

Gerade hieran zeigt sich, daß man Hegel vielleicht manchmal zu früh verabschiedet hat. Denn er hat sich wie kaum ein anderer an den Details abzuarbeiten versucht. Aber auch der Begriff der Vernunft bleibt bei allen seltsam verschwommen. Er wird in seinen vielen Facetten benutzt, kaum aber direkt in den Blick genommen. So bleibt der Titelbegriff „Vernunft“ selbst so etwas wie die Black box des Kongresses.

Eine Ausnahme machte nur Michael Theunissens „Vernunft, Mythos und Moderne“, unzweifelhaft der herausragende Vortrag des Kongresses. Theunissen versuchte, die eigene legitime Macht der Vernunft gegen eine illegitime fremde abzugrenzen. Er ging aus von einer Kritik an Habermas, der zwar kein Vernunftfundamentalist sei, die Vernunft aber dennoch überlaste. Im Anschluß daran analysierte er in einem komplexen Argumentationsgefüge drei Problemfelder der Vernunft in der Moderne: ihre Verhältnisse zum Verstand, zum antiken Vernunftbegriff und zum Anderen der Vernunft. Dabei schlug er zudem einen weiten historischen Bogen von Hesiod über Hegel und Schelling bis zur Kritischen Theorie und zu Foucault.

Bei den meisten anderen Vorträgen aber blieb der Eindruck einer gewissen Müdigkeit zurück, die über die normale Unlust, die auf Kongressen immer zu finden ist, hinausging. Der Veranstalter allerdings führt das stagnierende Publikumsinteresse an Hegel- Kongressen auf die steigenden Hotelpreise in Stuttgart zurück.