: "Marx hat eine Riesennase"
■ 36 Blinde erkundeten zehn Tage lang Berlin / Auch im Schießstand haben Nicht-Sehende Erfolg / "Aktion Tonband-Zeitung" lud ein, die Stadt zu "begreifen"
Immer und immer höher wird der penetrante Ton in den Kopfhörern. Die höchste Frequenz ist erreicht, der Schütze drückt ab, mitten ins Weiße, in die Zehn. Allerdings kann er dies nicht sehen, höchstenfalls später an dem Durchschuß auf dem Papier ertasten — der Schütze ist blind. Aber das Gewehr, mit dem er schießt, hat dort, wo sonst Kimme und Korn die Zielrichtung bestimmen, eine Fotozelle. Diese setzt schwarzweiße Schattierungen auf der Zielscheibe in akustische Signale um.
Der Spandauer „Blinden- Schützen-Verein“ war eine der zahlreichen Stationen auf dem zehntägigen Programm von 36 blinden Berlin-Besuchern. Bereits zum 11. Mal hatte Detlef Friedebold von der „Aktion Tonband- Zeitung für Blinde“ seine Hörer nach Berlin eingeladen. „Wir veranstalten diese Reisen unter dem Motto ,Berlin begreifen‘ im wahrsten Sinne des Wortes.“ Er selbst ist mit 29 Jahren erblindet und möchte seinen LeidensgenossInnen einen Zugang zu dieser Metropole bieten und ihnen Angst und Unsicherheit nehmen.
Bei einer aus Österreich angereisten Teilnehmerin war die Angst groß, als es hieß, im Zoo direkten Kontakt mit nie gesehenen Tieren zu bekommen. Einer meterlangen Boa Constrictor durften die Blinden über die schuppige und warme Haut streicheln und konnten sich so ungefähr ein Bild von deren Eleganz und Geschmeidigkeit machen.
Was anderen Zoo-Besuchern grundsätzlich verboten ist, nämlich das Anfassen der Tiere, war für die im Schnitt 50jährigen ausnahmsweise erlaubt. Das Spitzmaulnashorn „Kilaguni“ fütterten sie mit Äpfeln, wobei das tonnenschwere Ungetüm liebevoll seine weiche Schnauze an den Händen der Blinden rieb. Mit den Elefanten konnte die Gruppe Gemeinsamkeiten feststellen: Auch diese können sich nicht auf ihre Augen verlassen, um die Fremdlinge im Gehege zu identifizieren, und beschnupperten die Besucher mit ihren riesigen Rüsseln. So kam es dann zu einem fast intimen Tast- und Riechkennenlernen, wobei einer der Teilnehmer sogar die überdimensionierte Zunge eines Jumbos zu fassen bekam.
Am Ende des Zoobesuchs war die Angst der Österreicherin schließlich in Begeisterung umgeschlagen: „Das fand ich ganz toll. Der Elefant hatte ja fast mehr Angst als ich. Wie groß ist der denn überhaupt?“
Detlef Friedebold ist begeistert über das Entgegenkommen des Zoos. Es habe Vorbildfunktion für andere Institutionen wie beispielsweise Museen. „Wenn die Blinden Dinge anfassen und abtasten können, machen sie sich eine Vorstellung von den Sachen, auch wenn sie geburtsblind sind.“ Der Berliner Arzt organisiert die jährlichen Reisen zusammen mit seiner Frau – ehrenamtlich. Unter den bundesweit rund 11.000 Hörern seiner „Tonband-Zeitung“ gibt es mittlerweile so viele Interessierte, daß Wartelisten angelegt werden mußten, weil „mehr als 18 Blinde mit je einem Begleiter zuviel werden“.
Im „Stasi-Museum“ in der Frankfurter Straße wurde die Gruppe durch das ehemalige Mielke-Büro geführt, wobei eine Führerin wortreich nicht nur die Räume, sondern auch deren Geschichte beschrieb. Von den Büsten Marx' und Engels' konnten sich die Nicht-Sehenden durch Tasten selbst ein Bild machen: „Mensch, der Marx hat ja einen riesigen Zinken, das hätt' ich nicht gedacht“, beschrieb einer seine Eindrücke. „Ich finde, sein Bart ist noch viel riesiger“, hielt eine Frau, die er während der Woche kennengelernt hatte, dagegen.
Das umfangreiche Programm, das Besuche im Museum für Technik und Verkehr, der Spandauer Zitadelle, eine Bootsfahrt auf dem Wannsee und einiges mehr vorsah, schlauchte die Teilnehmer zusehends. Trotzdem war diese „Berlin-begreifen“-Tour für alle ein Renner. Manche sind sogar schon zum zweiten oder dritten Mal dabei. „Endlich kann man mal von zu Hause rauskommen und ist nicht die ganze Zeit auf fremde Hilfe angewiesen“, fand einer der Blinden. Auch er wird sich wieder in die Wartelisten für diesen „Abenteuer“-Urlaub eintragen. Jörg Welke
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