■ Zum 200. Todestag von Karl Philipp Moritz
: Peter Handke: Der Selbstmaßregler

Kaum jemand ist in einem Buch so streng mit sich selber umgegangen wie Karl Philipp Moritz mit sich als „Anton Reiser“. Rousseau schreibt dagegen von seiner Jugend geradezu, als handele es sich um die eines verborgenen Königssohns. Wenn das Wort „Selbsterforschung“ je am Platz war, dann bei Moritz. Und in seinen eigenen Lehr- und Wanderjahren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat er auch zum Beispiel die meinigen erforscht, die jetzt noch vor sich gehen, da ich mehr als zweieinhalbmal so alt bin wie sein Anton Reiser am Ende seines Umherirrens, und wohl auch die Wanderjahre nicht weniger nachfahrender Gesellen. Es ist eine fast schaurige Härte, nein, Schärfe gegen sich selbst in dem „Anton Reiser“ (und mehr noch im „Andreas Hartknopf“), die zum Glück dann manchmal auch zum Lachen ist. Obwohl Moritz jünger war als Goethe, wirkt er als dessen älterer Bruder (ganz und gar nicht „verwahrlost“, wie G. gemeint hat), als uralt. Wie die Stimme dieses Uralten ständig eingreift in das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, scheint sie in der Tat die Rolle eines anderen Goethe zu spielen, eines gleich klarsichtigen, nur ohne Milde (und sei sie auch vorgemacht). Moritz, der andere Goethe, stofflicher, analytischer, illusionslos (?), läßt sich und mir aber auch schon gar nichts durchgehen. Er verklärt nichts. Aber, dachte ich beim Wiederlesen jetzt, kann die Verklärung nicht auch ein Stoff – Materie – sein? Hätte er den „Anton Reiser“, der jäh und hoffnungslos abbricht, weitergeschrieben, so hätten sich zur Kritik unseres Jugendwahns jene Gegenbilder, so mein Gedanke, sich dazu„gesellt“, durch die Karl Philipp Moritz als der mir so fehlende „dritte“ Goethe erschiene, der er ohne seinen frühen Tod notwendig geworden wäre: bei gleichbleibender Schärfe mit der wiedergewonnenen Sehnsucht, nur eben nun im Gleichmaß von einst. Auch so bleibt er mit dem „Anton Reiser“ natürlich unvergänglich, als Selbstmaßregler, bei dem zugleich zu spüren ist, daß er sich dabei nicht nur belacht, sondern auch beweint. Nur: Wann ist man im richtigen Alter, ihn zu lesen? Für die meisten ist zu fürchten, daß sie ihn entweder zu früh in die Hand nehmen, oder zu spät. So ging es bei meinen zwei Malen jedenfalls mir. Recht so? Ich hätte sonst nicht weiter zu schreiben gewagt, so durchschaut hat mich Moritz in sich.17. Juni, Šempolaj, Karst