■ Gastkommentar
: Der Durchblick ist die Mühe wert

Vor zwanzig Jahren war die Welt noch in übersichtlicher Unordnung. Die alternativen Drittwelt-Zeitschriften dienten einer Bewegung, die sich bei aller Vielfalt doch über zentrale Punkte einig sein konnte: für die Unabhängigkeit der Länder der Dritten Welt, gegen die Herrschaft des Kapitals und des US-Imperialismus, für den Sozialismus, gegen Folter und politische Unterdrückung, für den Frieden, gegen die Macht des Militärs, für die Revolution in Portugal, gegen die Diktatur in Chile.

Mochten die Vorstellungen darüber, was denn Sozialismus sei oder wie dem Frieden am besten gedient werde, auch sehr verschieden sein, die Bewegung konnte auf eine Diskussion der Einzelheiten verzichten und gemeinsam wenigstens die Straße erobern, wenn ihr doch die Kommandohöhen der Politik versperrt blieben. In der alternativen Presse versicherte sie sich ihres Engagements und ihrer Solidarität mit den Unterdrückten der Welt. Was die offizielle und offiziöse Presse verhüllte oder verschwieg, das wurde hier mit bescheidenen Mitteln, aber doch massenhaft unter die Leute gebracht.

Inzwischen scheint die große Unübersichtlichkeit eingekehrt zu sein. Es begann damit, daß die universelle Geltung der Menschenrechte ja nicht nur gegenüber rechten Diktaturen eingeklagt werden konnte. Die Aufmerksamkeit für die ökologischen Verwüstungen auf dem ganzen Erdball und für die Lebensrechte der indigenen Völker wuchs. Das waren alles Fragen, bei denen Gut und Böse nicht mehr so eindeutig auf die politischen Lager verteilt werden konnten. Und mit dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus verschwand für manche der Engagierten ein Orientierungspunkt für ihre Arbeit. Wenn nun auch noch der Guerilla-Führer aus El Salvador zum smarten Geschäftsmann und der chilenische Sozialist zum Bannerträger neoliberaler Ideen wird, kann leicht eine Welt zusammenbrechen.

Trotzdem existiert die alternative Drittwelt-Presse weiter. Hochmotivierte junge Leute opfern einen Großteil ihrer Freizeit, um so seriös und professionell wie möglich Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen, die von der postmodernen Vielfalt der Medien fast erschlagen wird. Warum? Weil in dieser scheinbar unübersichtlichen Vielfalt der Blick dafür verlorenzugehen droht, daß – bei aller Differenzierung innerhalb der Dritten Welt – die Strukturen der Abhängigkeit, die Konzentration des Reichtums und die Gewalt der Zerstörung weltweit noch nie so groß waren wie heute. Urs Müller-Plantenberg

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und seit zwanzig Jahren Mitarbeiter der „Lateinamerika Nachrichten“.