FELIX PHILIPP INGOLD

Foto: Yvonne Boehler

„Es gibt Gedichte-wie-offene-Hände, Gedichte-wie-Frauen, die Raum schaffen, die zu Fenstern werden, durchlässige Gedichte, die sich zur Welt hin öffnen – nach außen.“ So äußerte sich 1981 Felix Philipp Ingold zum Gedicht, als sein erster Gedichtband „Unzeit“ mit hochdiffizilen Sonetten erschien. „Es ist eine leise, sehr langsame Arbeit zu leisten, bis man einen winzigen, lebenswichtigen Zusammenhang vibrieren fühlt, eine Verbindung entdeckt, die [...] Sinn durchsickern läßt, zwischen einem Ding und einem Wesen.“ In der deutschsprachigen Literaturlandschaft nimmt sich der 1942 in Basel geborene Autor, der auch ein größeres Romanwerk vorgelegt hat, wie eine einzelgängerische Figur aus. Zwar liegt es für uns nahe, zunächst an Ernst Jandl oder Oskar Pastior zu denken. Doch ist seine poetische Genealogie eine andere, für uns ungewöhnlichere: Er fühlt sich eher als ein später Nachfahre von Ossip Mandelstam, der „großen“ Marina Zwetajewa, Alexander Blicks oder des „mutmachenden“ Velimir Chlebnikov – Dichter, die er nicht nur übersetzt, sondern auf die er auch in Essays zur russischen Kunst- und Geistesgeschichte eingegangen ist.

Die Sprache seiner Gedichte synthetisiert Tradition mit Sprüchen von Wurfsendungen, answering machines, Alltagsclips und Werbebroschüren. Er schafft, was wir ein alternierendes Sprachsystem nennen könnten. Für die Modernisten war das Bild (The Image) noch „das primäre Pigment“ (Pound), „der Vektor“ (Olsen); inzwischen hat es aber seine Autorität als poetische Signatur weitgehend eingebüßt. Die Betonung auf dem poetischen Medium „als konstruiert und regelbeherrscht“ hat, wie die amerikanische Lyriktheoretikerin Marjorie Perloff ausführt, „die Vorherrschaft von natürlicher Rede, spontanen Rhythmen und dem, was T.S. Eliot ,common intercourse‘ nannte, in Zweifel gezogen“. Auch die Gedichte von Felix Philipp Ingold sind radical artifice, radikale Artefakte, Partikel psychischer Vergewisserung und Desintegration auf dem strahlkräftigen Hintergrund von Kitsch, Parodie und Brennschluß. Ingolds Gedichte sind offen. Sie sind Sirenengesänge unserer Zeit, den Weisen der elektronischen Kommunikation vergleichbar, bei denen die Möglichkeit sich stets erhöht, daß das Empfangene zu dem differiert, was ausgesandt wurde. Die Gedichte dieser Seite – je eines als Beispiel aus den beiden ersten Gedichtbänden, alle anderen noch unveröffentlicht – verlangen vom Leser, daß er an sie hindenkt, in sie hineingeht und sie weiterdenkt. Joachim Sartorius

Bibliographischer Kurzhinweis:

F.P. Ingold veröffentlichte zuletzt „Ewiges Leben“ (Erzählung, München 1991), „Der Autor am Werk“ (Essays, München 1992); Übersetzungen aus dem Russischen (O. Mandelstam, M. Zwetajewa, V. Buritsch, J. Brodsky, Gennadij Ajgi u.a.), aus dem Tschechischen (Jan Skácel) und aus dem Französischen (Francis Ponge, Michel Leiris, Edmond Jabès).

Im Rainer Verlag, Berlin, sind erschienen: „Fremdsprache. Gedichte aus dem Deutschen“, 1984, „Buch der Sprüche. Ein Idiotikon“, 1987 und „Reimt's auf Leben. Gelegenheitsgedichte“, 1992

Im Herbst 1993 erscheinen „Ausgesungen“ (Rainer Verlag) und „Restnatur“, Späte Gedichte (Kleinheinrich, Münster).