„Einfach jemand zum Liebhaben“

Das Langzeitverhütungsmittel Norplant verhindert fünf Jahre lang Schwangerschaften / In den USA wird es Teenagern in der Schule eingepflanzt – es gilt als Allheilmittel gegen Armut, Rassismus und dient der sozialen Kostendämpfung / In Brasilien lief bis 1986 eine Studie mit Norplant

Der flache Backsteinbau im heruntergekommenen Arbeiterstadtteil von Baltimore sieht aus wie eine ziemlich gewöhnliche Schule. Doch alle 300 Schülerinnen der Paquin School – 90 Prozent sind schwarz, die übrigen Hispanics – haben eine Erfahrung gemeinsam: Sie sind schwanger oder haben bereits ein Kind. Seit Anfang des Jahres findet hier ein in den USA bisher einmaliges Experiment statt. Den 13 bis 20jährigen Mädchen wird angeboten, im Gesundheitszentrum der Schule kostenlos ein neues Verhütungsmittel zu bekommen: Norplant, sechs kaum streichholzgroße Stäbchen, die unter die Haut der Armbeuge gepflanzt werden und fünf Jahre lang das Hormon Levonorgestrel abgeben. Der Eingriff dauert keine zehn Minuten, die Kapseln werden bei lokaler Betäubung implantiert.

Initiatorin des Modellversuchs ist die Gesundheitsbehörde des Bundesstaates Maryland. Sie sieht darin eine Antwort auf ein soziales Phänomen, das als „Epidemie“ begriffen wird: Baltimore hat eine der höchsten Teenager-Schwangerschaftsraten des Landes. Jedes zehnte Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren wurde 1990 Mutter. Jede vierte Frau, die ein Kind zur Welt brachte, war noch keine 20 Jahre alt. Da die meisten schwangeren Teenager aus armen Familien kommen und ihr Kind ohne Vater aufziehen, muß der Staat für den Unterhalt aufkommen.

Noch in diesem Jahr soll Norplant in acht weiteren High- Schools der Stadt angeboten werden. Die Entscheidung provozierte heftige Kontroversen. Daß die Mädchen fünf Jahre lang garantiert nicht wieder schwanger werden, gäbe ihnen die Chance, ihre Ausbildung abzuschließen und der Armut zu entkommen, sagen BefürworterInnen des Projekts. Konservative Moralisten meinen, die Teenager würden damit „zu vorehelichem Sex und Promiskuität ermutigt“. Für den Afro-Amerikaner und Politiker Melvin Tuggle ist Norplant ein Mittel zum rassistischen „Genozid“.

Entwickelt wurde das Mittel seit Mitte der 60er Jahre vom New Yorker Populations Council, einer bevölkerungspolitischen Stiftung. Getestet wurde es vor allem an Frauen in Ländern der Dritten Welt. 1983 kam das Präparat in Finnland, dem Sitz der Herstellerfirma Leiras, auf den Markt, kurz darauf in Indonesien, Thailand, Kolumbien und neun weiteren Ländern. Erst 1990 wurde Norplant auch von der US-Arzneimittelbehörde zugelassen. Dank der entsprechenden Media-Promotion als „Porsche unter den Verhütungsmitteln“ erlangte es rasch eine gewisse Popularität.

Eine halbe Millionen Amerikanerinnen tragen es inzwischen unter der Haut. Selbst in upper-class- Kreisen galt es zeitweise als schick, die fächerförmigen Stäbchen am Arm unterm Cocktaildress hervorlugen zu lassen. Während Norplant in Dritte-Welt-Länder für 23 Dollar pro Stück exportiert wird, ist es in den USA ein teures „Vergnügen“: 350 Dollar verlangt die US- Lizenzfirma Wyeth für das Produkt, dazu kommen für die Frau etwa 200 Dollar Arztkosten für das Einsetzen. Bei nachgewiesenermaßen armen Frauen übernimmt die staatliche Krankenfürsorge „Medicaid“ die Kosten.

Mittlerweile findet die Idee, Norplant „als Waffe gegen die Armut“ einzusetzen, breiten Anklang. In 13 US-Bundesstaaten liegen laut Newsweek inzwischen Gesetzentwürfe vor, die Norplant zu einem Instrument der Sozialpolitik machen wollen. Anfang des Jahres schlug der Gouverneur von Maryland, der Demokrat Donald Schaefer, vor, die Vergabe von Sozialhilfe von Norplant abhängig zu machen. In Tennessee und Kansas sollen Sozialhilfeempfängerinnen 500 Dollar erhalten, wenn sie sich Norplant einsetzen lassen – 50 weitere Dollar werden für jedes Jahr in Aussicht gestellt, wenn sie die Kapseln weiter tragen. Die Entfernung des Implantats beim Arzt kostet 100 Dollar. Andere Staaten haben die Palette der Vorschläge noch erweitert: Für Frauen, die während der Schwangerschaft Drogen nehmen oder wegen Drogenmißbrauchs verurteilt werden, soll Norplant zur Pflicht werden.

Die Befürworter solcher, als „freiwilliger Anreiz“ verbrämten Zwangsmaßnahmen, argumentieren vor allem damit, daß die Sozialunterstützung für die rechtschaffen arbeitenden SteuerzahlerInnen eine „unzumutbare Belastung“ darstelle. Schließlich, so hat man in Kansas ausgerechnet, spare ein verhindertes Kind den Staat 205.000 Dollar an sozialen Leistungen von der Geburt bis zum Erwachsenwerden. So gesehen sei die teure Verhütung eine kostengünstige Investition.

Das „Nationale Gesundheitsprojekt Schwarzer Frauen“ weist diese Sichtweisen mit aller Entschiedenheit zurück. Für sie kreist die Debatte um ein altes Thema: die Kontrolle der Fruchtbarkeit von – vor allem armen – Frauen. Julia Scott, Leiterin der Selbsthilfeorganisation, erinnert an die Geschichte eugenischer Politik in den USA, bei der zwischen 1907 und 1945 über 45.000 Menschen, die meisten arm oder als geistig behindert definiert, zwangssterilisiert wurden. „Weil Norplant einer zeitweisen Sterilisation gleichkommt, wird versucht, es den Frauen, die die geringste Macht in dieser Gesellschaft haben, aufzuzwingen.

Andere KritikerInnen befürchten, daß Norplant nur der Anfang einer generellen (Qualitäts-)Kontrolle der Fortpflanzung sein könnte: „Wir könnten bald mit Zwangs-Gentests bei Schwangeren konfrontiert werden“, meint Arthur Caplan, Bioethiker an der University of Minnesota. „Wenn die USA gewillt sind, einer 16jährigen Norplant einzusetzen, um Kosten zu sparen, dann ist auch denkbar, daß der Staat sagt, du kannst nicht Mutter werden, weil du wahrscheinlich ein behindertes Kind haben wirst, das die Gesellschaft zuviel kostet.“

Beantwortet ist damit noch nicht die Frage, warum Teenage- Schwangerschaften in den USA doppelt so häufig sind wie in Europa. Neuere Untersuchungen belegen, daß es zu kurz greift, davon auszugehen, daß den Teenagern einfach Verhütungsmittel fehlen. Denn selbst wenn Mädchen ungeplant schwanger werden, entscheiden sie sich oft dafür, das Kind haben zu wollen. Gerade in den Ghettos der Großstädte, in denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Gewalt zum Alltag gehören, sehen Jugendliche kaum Aussichten, zum College zu gehen oder je einen guten Job zu bekommen.

Während Jungen Anerkennung in ihren Gangs und durch den Drogenhandel bekommen, bleibt Mädchen nur, Mutter zu werden, um ihr Prestige bei Gleichaltrigen zu steigern. Viele Mädchen sehen offenbar im Kind die einzige Chance, „etwas eigenes“ zu haben, das ihrem Leben Sinn geben könnte. Sie hoffen, damit ihren kaputten Familien zu entkommen, den überlasteten Eltern, die nicht ansprechbar sind, der alleinerziehenden Mutter, die zwei Jobs braucht, um über die Runden zu kommen und ausrastet, wenn die Tochter es wagt, um fünf Dollar fürs Kino zu bitten. „Ich wollte einfach jemand zum Liebhaben“, erklärte unlängst ein Mädchen in der Los Angeles Times.

Das Alan Guttmacher Institut sieht einen engen Zusammenhang zwischen der wachsenden Kluft zwischen Armen und Reichen und den Teenage-Schwangerschaften. Die Wirtschaftspolitik der Reagan/Bush-Jahre hat ein soziales Trümmerfeld hinterlassen. Norplant an Schulen ist kein Mittel gegen Armut, Rassismus, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Es wird als technische Lösung für soziale Probleme angeboten, denen sich eine Gesellschaft nicht stellen will. Ingrid Schneider

Foto: Carolin Schüten