Du bist und bleibst aktuell

Lieber Rudi!

„Sich selbst zu verändern, glaubwürdig zu werden, Menschen zu überzeugen und den verschiedensten Formen von Ausbeutung und Terror entgegenzuwirken, das mag in manchen Augenblicken ungeheuer schwer erscheinen. Und dennoch gibt es keine Alternative!“

1977 hast Du jene Worte den Rebellen, Radikalen und Unverdrossenen sowie auch Unentschlossenen und Ratlosen entgegengeworfen und es wie kein anderer verstanden, sowohl Deine Mitstreiter als auch Deine Gegenstreiter zur Selbsttätigkeit zu ermuntern. Es scheint, Du bist nie müde geworden, mit Provokationen und aufsehenerregenden Aktionen aufzurütteln und aufmerksam zu machen, stets bereit zur Konfrontation und harten Auseinandersetzung mit Deinen Gegnern. Doch wie sieht es heute aus?

[...] Leider gibt es viel zu wenige derer, die in unserer heutigen Zeit, deren Verhältnisse Dich garantiert auf die Barrikaden und zurück zum Rednerpult brächten, begreifen, wie wichtig Veränderungen und eigene Ideen in unserer Gesellschaft sind.

[...] Heute hasten Studenten leistungsorientiert und dennoch zukunftsängstlich, unterwürfig und dennoch aufstiegsbesessen, stromlinienförmig und dennoch träge durchs Studium und entfernen sich zusehends immer weiter vom Leben auf der Straße. Niemand will gewaltsam akademische Proletarier züchten, aber Ziel muß sein, die Akzeptanz zementierter Strukturen in unserer Gesellschaft endlich aufzubrechen. Doch durch wen?

Nur wenige trauen sich das, was sie an Dir, Rudi, so bewunderten: etwas ins Rollen zu bringen, was nicht mehr aufzuhalten ist, Deinen Mut zur Veränderung, Mut, anders zu sein, und das häufig fehlinterpretierte „auf der Nase herumtanzen“ zu einem Mittel der Revolution durch Überzeugung zu machen.

Auch wenn es manchen, die gehofft hatten, leichteres Spiel mit uns zu haben, nicht paßt: Du bist und bleibst aktuell, und wenn wir die Revolten der Sechziger und das Klima der Lynchjustiz des deutschen Blätterwaldes, das leider nicht ohne heutige Parallele geblieben ist, noch nicht ganz aus unseren Köpfen verbannt haben, wird es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis wir uns endlich zusammen gegen Einfältigkeit, Einfallslosigkeit, Anonymität und Unfreiheit wehren – egal ob in Hörsälen oder Flüchtlingsheimen, auf Baustellen, in Fabriken oder Schulen. [...] Herzliche Grüße Deine Anne