„Unsere Kinder sollen Estnisch lernen“

In Narwa wächst der Unmut über das neue Ausländergesetz Estlands / Doch immer mehr Russen sind bereit, die Bedingungen für die Staatsbürgerschaft zu erfüllen  ■ Aus Narwa Matthias Lüfkens und Reinhard Wolff

Wenn Juri über die Regierung und ihre Politik spricht, wird er laut. Die „allergrößte Gemeinheit“ sei es, das neue Ausländergesetz Tallinns. Und da dauert es dann auch nicht lange, bis sich um den gestikulierenden Rentner eine Gruppe von Passanten sammelt. Unter dem Lenindenkmal sind die älteren Russen sich in der Ablehnung des neuen Gesetzes einig. „Schließlich haben wir die Stadt und ihre Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut, und nun sind wir Ausländer in der eigenen Heimat.“ In der Grenzstadt Narwa sind 96 Prozent der 62.000 Einwohner russischstämmig, und nur 7.000 Einwohner haben die Staatsbürgerschaft.

Auch in der größten estnischen Ölschiefergrube „Estonia“ im nordostestnischen Johvi ist das neue Gesetz derzeit Hauptthema der rund 2.100 Bergarbeiter. „Wenn ich meine Arbeit verliere, werde ich deportiert“, meint Wladimir Kondraschin. 15 seiner 36 Jahre hat Wladimir unter Tage verbracht.

„Für wen habe ich eigentlich mein ganzes Leben lang gearbeitet“, fragt er sich nun. Viele Russen, die im Bergwerk den Ölschiefer fördern, der in den zwei estnischen Elektrizitätswerken verfeuert wird, sind verunsichert. „Theoretisch kann ich natürlich einen Antrag auf die estnische Staatsbürgerschaft stellen. Doch das Gesetz enthält so viele Ausnahmen, da blickt doch keiner durch.“ Und der als „gemäßigt“ geltende Stadtratsabgeordnete von Narwa, Wladimir Malkowski, meint: Wie kann man sicher sein, daß die estnische Regierung später nicht hart gegen die Russen vorgeht?“

Doch wie die russische Bevölkerung Estlands auf die neuen Bestimmungen reagieren soll – darüber herrscht bisher völlige Unklarheit. Die Rentner sind verbittert und resigniert. Die Kumpel wollen kämpfen, vor einem Streik schreckt man bisher jedoch noch zurück: „Wir hoffen, daß das Gesetz geändert wird.“

Mit Rußland verbindet viele dagegen nur wenig. Und so kritisiert selbst der ehemalige örtliche Parteisekretär die von Moskau als Reaktion auf das Gesetz angekündigten Sanktionen: „Es wäre viel besser, wenn Rußland uns wirtschaftlich unterstützt und die Zollbarrieren aufhebt.“

Radikaler als der Ex-Parteisekretär, der heute eine Import-Export-Firma leitet, gibt sich der Stadtratsvorsitzende Wladimir Tschuikin. Von den Esten als „Feind Estlands“ an den Pranger gestellt, verteidigt er die von Moskau angekündigten Wirtschaftssanktionen. Tschuikin, der sich „weiterhin als Kommunist“ bezeichnet, kämpft aber auch um sein politisches Überleben, denn der Russe, der vor einigen Jahren nach Estland gekommen ist, darf sich laut des neuen Wahlgesetzes über die Lokalwahlen im Herbst nicht mehr zur Wahl stellen.

Und so ging Tschuikin in der letzten Woche in die Offensive. Der Stadtrat beschloß, ein Referendum über die „Autonomie“ Narwas zu organisieren. Von einem Anschluß an Rußland ist im Unterschied zu früheren Diskussionen dabei jedoch nicht mehr die Rede. Denn diese wird gerade von den jüngeren Russen abgelehnt. Zwar wollen sie sich von der Tallinner Regierung nicht für die sowjetische Okkupation verantwortlich machen lassen, Verständnis für die estnische Bevölkerung haben sie aber dennoch. „Das Problem für sie ist, daß wir Russen zu viele sind. Da kann die nationalistische Propaganda voll durchschlagen.“

Tanja, eine Mathematik-Studentin, erzählt, daß das Leben in zwei parallelen Gesellschaften keine Besonderheit Narwas ist: „Das ist an der Uni in Tartu genauso. Die Toiletten sind fast das einzige Gemeinsame. Schon wenn wir auf den Beginn einer Vorlesung warten, gibt es zwei Gruppen: die estnischen und die russischen Studenten.“ Sie lebten im Studentenwohnheim Tür an Tür, Kontakte seien etwas völlig Ungewöhnliches. „Viele Esten sind total arrogant geworden. Wir gelten als die dummen Russen, sie sehen sich als Herren.“

Der Referendumsbeschluß des Stadtrats von Narwa wird jedoch nicht nur von der Tallinner Regierung als „illegal“ verurteilt. Auch der Beauftragte der KSZE in Estland, Ole Kvärno, mußte feststellen, daß „das Referendum unsere Arbeit sichtlich erschwert“ hat. Selbst ein bewaffneter Konflikt“ sei nun für Narwa nicht mehr auszuschließen.

„Es kommt nur zu einem Konflikt, wenn jemand die Gewalt organisiert“, meint dagegen Sergej Gorokhow, eine Russe, der kürzlich die Staatsbürgerschaft für „spezielle Dienste“ bekam, obwohl er kein Estnisch spricht. Zudem gibt es im Nordosten der Baltenrepublik keinen einzigen russischen Soldaten mehr. Die einzigen bewaffneten Kräfte sind die jungen unerfahrenen estnischen Grenzsoldaten und die mehrheitlich russischsprechende Polizei. Von rund 300 Polizisten hat nur ein kleines Viertel die Staatsbürgerschaft. Ein Inspektor erzählt, daß ihm seit Monaten die Staatsbürgerschaft für „spezielle Verdienste“ versprochen wurde, daß er sich jetzt leider selber darum kümmern und die Sprache lernen muß. Der Polizeipräfekt Eduard Degel versichert: „Meine Männer werden das estnische Gesetz beachten.“

„Rußland hat kein Recht, über Diskriminierung zu sprechen. Die Esten sind die eigentliche Minderheit in Narwa“, meint Ahto Riig, einer der wenigen Esten in der Stadt. „Ich mußte für meine Mutter immer übersetzen, wenn sie zum Arzt ging, denn der sprach nur russisch“, erinnert sich der Mann, der die Russen für die totale Zerstörung der Hansestadt während des Krieges verantwortlich macht. Insgeheim würde er die Russen wohl gerne über die Narwa-Brücke ins russische Iwangorod verbannen. Doch die meisten Russen wissen nicht, wohin sie gehen sollen, und die Auswanderungswelle im letzten Jahr ist jetzt abgeebbt. „Rußland ist für uns keine Mutter, wir werden dort nicht mit Fanfaren empfangen“, so der Bergarbeiter Wladimir Malkowski.

Die meisten der Stadtratsabgeordneten in Narwa wissen bereits, daß sie zu den ersten Russen gehören, denen die Aufenthaltsgenehmigung verwehrt wird, denn sie, so meinen die estnischen Behörden, haben dem „internationalen Ansehen Estlands geschadet“. Auch die Demonstranten, die ihrem Unmut vor dem Rathaus Luft machen, gehören zu der Kategorie der Russen, die in Estland unerwünscht sind. Alle ehemaligen sowjetischen Armeeangehörigen und ihre Familien, etwa 100.000 Personen, die sich in Estland zur Ruhe gesetzt haben, werden keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und sollen gehen. Kein europäisches Land hätte den deutschen Wehrmachtssoldaten nach dem Krieg die Staatsbürgerschaft erteilt, so meinen die estnischen Politiker.

„Viele haben seit 50 Jahren hier ihre Wurzeln geschlagen“, meint der Hochkommissar für nationale Minderheiten, Max van der Stoel, der versucht, diplomatisch eine neue Redaktion des Gesetzestextes zu erwirken. Die Esten jedoch argumentieren, daß die Russen problemlos die estnische Staatsbürgerschaft erwerben können: daß ein Russe leichter die estnische als ein Türke die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten würde. Daß das estnische Gesetz eines der liberalsten in Europa sei. Seit dem Inkrafttreten des estnischen Einbürgerungsgesetzes im März haben 12.000 „Nicht-Bürger“ einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Voraussetzungen sind eine Aufenthaltsdauer von drei Jahren und ein Sprachtest.

Doch gerade hier hapert es. In Narwa wurde unter dem sowjetischen Regime Estnisch fast gar nicht unterrichtet, und bis jetzt gibt es kein staatliches Lernprogramm. Wer Estnisch lernen will, muß den Sprachkurs selber zahlen. In der Ölschiefergrube „Estonia“ wurden aus Mangel an Freiwilligen dieses Jahr keine Sprachkurse organisiert. „Auch wenn ich die Sprache lerne, kann ich mit niemandem reden“, meint der 54jährige Bergarbeiter Oleg Woronow. Dem estnischen Direktor Enn Loko zufolge ist „die offizielle Sprache in der Zeche weiterhin Russisch“. Er hofft, daß alle Bergleute die Staatsangehörigkeit ohne Sprachtest bekommen.

Dennoch sind immer mehr Russen auch im Nordosten Estlands bereit, Estnisch zu lernen. Besonders Angestellte bereiten sich auf den Sprachtest vor, denn dieser ist auch eine Voraussetzung für besser dotierte Posten. „Die Leute lernen leider nur für den Test“, so Andrej Dwortsow, ein Estnischlehrer in Narwa. „Unsere Kinder sollen Estnisch lernen“, wünscht Oleg Woronow. Doch auch heute ist der Sprachunterricht dürftig, denn die Regierung findet niemanden, der im Nordosten Estnisch lehren will.

Die meisten Russen, die ehemals der Unabhängigkeit kritisch gegenüberstanden, unterstützen heute den unabhängigen Baltenstaat. Hier liegt der Lebensstandard deutlich über dem anderer ehemaliger Sowjetrepubliken. „Ich verdiene mehr als der russische Vizepräsident Alexander Ruzkoi“, prahlt Oleg Woronow. Auf einer Geschäftsreise in die Ukraine konnte der Schachtleiter mit seinen ukrainischen Kollegen wie ein „Onkel aus Amerika“ auftreten. Während diese umgerechnet rund 30 Mark verdienen, hat er monatlich 300 Mark.

Doch der Erwerb der Staatsbürgerschaft bringt den Russen auch Nachteile. In Narwa strömen täglich rund 1.200 Fußgänger über die „Brücke der Freundschaft“ und unterziehen sich wohl oder übel den Paßkontrollen, um auf russischer Seite billig einkaufen zu können. „Dort bekomme ich für meine spärliche Rente zweimal soviel“, berichtet die Kriegsveteranin Alexandra Mirossowa. Die in Estland geborene Russin, die jederzeit die Staatsbürgerschaft bekommen könnte, will diese derzeit nicht beantragen, da auch Rußland ein Visaregime für estnische Staatsbürger eingeführt hat. Viele Russen können sich nicht damit abfinden, daß ihre Familienmitglieder in Iwangorod eine andere Staatsbürgerschaft haben. Andere fürchten, daß sie für den Besuch des Narwaer Zentralfriedhofs, der sich auf russischer Seite befindet, ein Visum erwerben müssen.

Am liebsten hätte er die Vorteile der automatischen estnischen Staatsbürgerschaft und keinen Visazwang, meint Waleri Jerimejew, der vor dem Rathaus in Narwa eifrig Unterschriften gegen das Ausländergesetz sammelt. Doch auch er weiß nicht, wie sich die verfahrene Situation entwickeln wird. Ausländische Beobachter sind sich in einer Sache einig: das Fehlen eines konstruktiven Dialogs wird heute als der schlimmste Fehler der jungen Republik gewertet. Ihre Forderung: „Beide Seiten müssen raus aus ihren Bunkern.“