Liebevolle Durchbruchpläne

Straßendurchbrüche in Berlin: Über die gekappten Linien aus der Vorkriegszeit und nach dem Mauerbau soll wieder Verkehr fließen  ■ Von Rolf Lautenschläger

Wer mit dem Kopf durch die Wand will, überwindet weder Mauern noch Grenzen. Seine Perspektive gleicht der eines Bulldozers. Straßendurchbrüche, Tunnelanlagen und Eisenbahndurchstiche, wie sie derzeit in Berlin angedacht werden, assoziieren diese Haltung. Dabei geht es nicht um die Erweiterung des Stadtgrundrisses an der Peripherie. Vielmehr handelt es sich um Versuche der Entgrenzung des Stadt-Innenraums – die historische Mitte.

Die Endlichkeit der Straßen in der Friedrichstadt und am Mehringplatz, in Mitte oder beiderseits der Leipziger Straße sowie die fehlende Nord-Süd-Fahrt für die Eisenbahn kollidiert mit dem in Berlin schon mythischen Bild der Mobilität. Die Begehrlichkeiten sind klar: Über die gekappten Linien aus der Vorkriegszeit oder die nach dem Mauerbau entstandenen Sackgassen soll der Verkehr möglichst reibungslos fließen. Die Straßen in die östliche City reichen angeblich für die Ansprüche nicht aus, die in sie hineininterpretiert werden. Begriffe wie Dienstleistungszentrum und Hauptstadt machen den Wandel sozialistischer Milieus scheinbar erforderlich. Der kühle Wind des Kapitals braucht eine andere Topographie, auch wenn man den zirkelschlagenden Maßstab von 22 Meter Straßenbreite durch Rückbau hier und da ins Auge faßt. Da ist es egal, sich Schneisen der Linden- oder Markgrafenstraße durch die Hochhausbebauung an der Leipziger Straße zu denken. Der alte Stadtgrundriß muß wiederbelebt werden – mit Autoverkehr!

Die Innenstadt wird unter diesem Druck implodieren. In der Konsequenz haben die Planer nicht Identität, sondern Funktionalität, ja Stadtzerstörung im Sinn. Ähnlich den Durchbrüchen durch Stadtviertel und der Sanierung des Stadtkerns im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geht es heute wieder um die Freilegung der Stadt für die Funktionen des Verkehrs. Daß früher ganze Quartiere, Straßenzüge und Häuser umstrukturiert und plattgemacht wurden, stört die heute Planenden wenig: „Die Idee einer erbarmungslosen Funktionalisierung der Stadt setzt eine eigenartige Beziehung zur Stadtgeschichte voraus. Berlin ist vielleicht die einzige Stadt Europas, in der jahrzehntelang die Stadtplaner liebevoll an Durchbruchplänen gearbeitet haben, die, anders ausgedrückt, nichts anderes waren als der Versuch, mit ihrer Stadt fertig zu werden, im Sinne eines Sich-davon-Losmachens, Sich-davon-Befreiens.“ (Ludovica Scarpa/Dieter Hoffmann-Axthelm)

Die Implosion der Innenstadt indessen hat wenig zu tun mit der Aufweitung alter Festungsmauern oder stadtkünstlerischen Durchbrüchen, wie sie Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné vorsahen. Doch bauliche Barrieren mußten der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und den Verkehrswegen auch damals weichen. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders aber nachdem Berlin Hauptstadt des Deutschen Reiches geworden war, blieb im Zentrum kein Stein mehr auf dem anderen. Straßen veränderten das soziale und bauliche Gefüge der Quartiere.

Neben den Durchbrüchen in der Friedrichstadt trieb man zum Beispiel die Verlängerung der Kaiser-Wilhelm-Straße in Richtung des heutigen Alexanderplatzes aus „sozialhygienischen“ Gründen voran. „Jenseits der Verkehrsprobleme steckte hinter diesem Plan die Absicht, die ,berüchtigte Gegend An der Königsmauer‘ sozial, also auch wirtschaftlich, zu sanieren.“ (Scarpa/Hoffmann-Axthelm) Die Haussmannisierung Berlins, gekoppelt mit Bodenspekulation und dem Gewinn von Baugrundstücken, begann. Hinter den Abrissen „der verrufensten Straßen Berlins“ standen die Interessen, die Stadtbahn zu errichten, ein repräsentatives Zentrum zu bauen und mit der Kaiser-Wilhelm-Straße die Durchwegung der gesamten Stadt erreicht zu haben.

Die Ausschließlichkeit, dem Verkehr im Inneren Berlins freie Bahn zu schaffen, läßt sich seit der Berliner Städtebauausstellung 1909/10 nachzeichnen. Martin Mächlers Entwurf einer Nord- Süd-Achse vom Spreebogen bis über den Landwehrkanal leitet übergangslos in die Absichten der Verkehrsplaner der zwanziger Jahre, die Innenstadt für die „Dynamisierung des Verkehrs“ freizuschlagen. „Große Straßendurchbrüche werden das Innere der Stadt durchlüften, werden den so oft geforderten zweiten Ost-West- Zug schaffen“, glaubte Ernst Reuter, damals Verkehrsstadtrat Berlins. Die Durchbruchs-Ideologie hielt in Berlin auch nach den Erfahrungen mit Albert Speers megalomaner Achsenplanung in der Nazizeit nicht inne. Im Ostteil der Stadt wurden nach der Teilung Berlins gar die Pläne Martin Wagners aus den zwanziger Jahren aktualisiert. Dem Ausbau der Verkehrsachse Leipziger Straße/Alexanderplatz ging ebenso ein Kahlschlag durch bestehende Stadtviertel voraus wie bei den Verkehrsplanungen zwischen Strausberger und Landsberger Platz. Die Auflösung der Stadt reduzierte sich im Westteil Berlins mehr auf das Reißbrett. Westtangente und Südtangente blieben Papier. Der Oranienplatz, als riesiges Autobahnkreuz geplant, besteht noch heute.

Nach der Vereinigung beider Stadthälften soll die Stadt einmal mehr „zum Betrieb“, zur Verkehrsmaschine werden. Die geplanten Umgestaltungen des Alexanderplatzes und des Potsdamer Platzes illustrieren dies par excellence. Mit den Beschwörungsformeln der zwanziger Jahre wurde zurückgedichtet, was jahrelang als verpönt galt: Bürostädte, Autolawinen, Car-Parks. Der Potsdamer Platz beispielsweise wird zum Kulminationspunkt für den Verkehr werden. Tunnelein- und Ausfahrten am Landwehrkanal fungieren als Schluck- und Spuckeinrichtungen. Nichts anderes wären ein Tunnel unter dem Brandenburger Tor oder ein Rondell nördlich der Invalidenstraße. Als Transitstationen zwischen außen und innen verlieren diese Punkte jeglichen Halt. Der Verkehr geht wie der Wind durch sie hindurch und bringt die Ökonomie der angrenzenden Viertel mit durcheinander. Die städtischen Rondelle veränderten ihren Charakter selbst.

Ein anderes Beispiel handfester Durchbruchsideologie droht heute der Französischen Straße. Über den barocken Stadtgrundriß hinaus wird an ihrer Verlängerung in westlicher Richtung herumgetüftelt. Als Ost-West-Entlastung der Straße Unter den Linden und als Hilfslösung bei der unendlichen Geschichte der Durch- oder -Nichtdurchfahrung des Brandenburger Tores erinnert die Durchstichplanung bis zur Mauerstraße oder gar durch das Areal der früheren Ministergärten an die Überlegungen von Ernst Bruch (!). In seinem Bebauungsplan von 1870 für die Zukunft Berlins hatten die Straßendurchbrüche der sich „totlaufenden Straßen“ in der Friedrichstadt schon stadtzerstörende Wirkung. Dem Durchbruch der Französischen Straße bis zur heutigen Tiergartenstraße sollte ein Südwestkorso von der Leipziger Straße bis zum Askanischen Platz folgen. Die Kochstraße durchbrach im „Bruchplan“ den Park des Albrecht-Palais (heute Topographie des Terrors).

Gegenwärtig wird die wahnwitzige Idee des Nord-Süd-Durchstichs für die Eisenbahn unter dem Lehrter Bahnhof und der daraus resultierenden Präsenz eines Bahnhofsviertels nur noch von einem anderen Durchbruchsgedanken übertroffen. Nach den Vorstellungen des Bauhistorikers Kurt Forster sollte die Straße Unter den Linden über den Marx-Engels- Platz hinaus bis zum Roten Rathaus verlängert werden.

Dem Boulevard, an dessen Endpunkt einst das Stadtschloß lag, komme heute die Aufgabe zu, so Forster, symbolisch die Kontinuität zwischen Westen und Osten der Stadt zu schaffen. Forster: „Die Spreeinsel müßte heute zum Schnittpunkt, zum Gelenk zwischen den Ost- und Westbezirken werden. Geht man auf diese Entwicklungstendenz ein, so führte man die städtische Avenue Unter den Linden gerade weiter und stieße am Ufer der Spree auf die Mittelachse des großen Stadtraums hinter dem Volkspalast. In der axialen Fortsetzung von Unter den Linden gewänne das Rathaus zudem eine städtische Aufwertung, die für sich selbst spräche.“

Forsters Durchbruchsidee weist über den angedachten Funktionalismus hinaus. Doch in der Weise, daß nicht stadtkünstlerische, sondern nur artistische Vorlagen bleiben. Der städtische Raum, die „Linden“ und das Marx-Engels- Forum werden zu Bühnen eines intellektuellen Spiels geweitet. Der künstliche Durchbruch wäre nicht mehr als ein Idealplan, über den Linien und Geraden führen wie Striche einer Graphik. An solchen Orten aber ist Stadt am wenigsten lebendig.

Den historischen Teil verdankt der Autor dem Buch „Berliner Mauern und Durchbrüche“ von Ludovica Scarpa/Dieter Hoffmann-Axthelm, Berlin 1987.