Batterien nachladen

20 Jahre schon macht John Neumeier in Hamburg äußerst erfolgreiches Ballett  ■ Von Annette Bopp

Zumindest einmal im Jahr geht John Neumeier zum Friseur: am Tag vor der Nijinski-Gala, dem offiziellen Höhepunkt der alljährlichen Hamburger Ballett-Tage. Der ergraute Wuschelkopf des 51jährigen Tänzers und Choreographen weicht einem asketisch kurzen Schnitt, und es scheint, als wolle sich der Hamburger Ballett- Direktor förmlich „reinigen“, den Ballast der umfangreichen, anstrengenden Spielzeit abwerfen, um frisch und klar zu sein für das Neue, was nun wiederum vor ihm liegt. Und vielleicht steckt dahinter sogar ganz unbewußt noch ein bißchen mehr – wirkt doch der kurzgeschorene Neumeier auf eine ganz besondere Weise anrührend. Einem so liebenswerten großen Jungen kann man schwerlich einen Wunsch abschlagen, und Neumeier wünscht sich derzeit viel – er steht in Vertragsverhandlungen mit der Stadt Hamburg für die Verlängerung seines Engagements über das Jahr 1996 hinaus. Einzelheiten zu seinen Forderungen läßt er zur Zeit noch nicht mitteilen, aber soviel hat er zumindest die Zeit wissen lassen. „Ich würde mehr Geld von der Stadt benötigen.“ Geld für die choreographische und tänzerische Arbeit, für Uraufführungen, Wiederauf- und Übernahmen, Neuinszenierungen, Gastspiele und natürlich den Unterhalt des europaweit einzigartigen Ballett-Zentrums, das – 1989 gegründet – sowohl bühnengroße Proberäume für das Ensemble bietet, als auch die Ballett-Schule und 40 Internats-Plätze beherbergt. Neumeier weiß, daß solche Forderungen in einer Zeit, da renommierte Theaterbühnen geschlossen werden, gewagt sind.

Er kann es sich leisten – hat er doch in den vergangenen vier Wochen die künstlerische Begründung für seine Ansprüche den Hamburgern in der Oper und auf dem Kampnagel-Gelände aufs schönste präsentiert. 18 Ballett- Abende mit einem Reigen faszinierender Choreographien überwiegend eigener Produktion sowie eine akkurat tanzende, hoch motivierte Kompagnie. Die Ballett- Tage, im zweiten Jahr von Neumeiers Engagement als Hamburger Ballett-Direktor 1974 ins Leben gerufen und in Deutschland bis heute einmalig, standen dieses Mal – logisch – ganz im Zeichen der Retrospektive seines Schaffens. Die Hamburger Kompagnie brachte das Kunststück fertig, fast jeden Abend ein anderes großes Neumeier-Werk zu tanzen, exakt wie seit Jahren nicht mehr und mit unbändiger Tanzlust. „Othello“, „Illusionen – wie Schwanensee“, die dritte und vierte Sinfonie von Gustav Mahler, „Peer Gynt“, „Kinderszenen“, „Désir“, „Ein Sommernachtstraum“, „A Cinderella Story“, „Le sacre du printemps“, Mozarts „Requiem“ und Bachs „Matthäus-Passion“ – trotz der Fülle insgesamt nur ein kleiner Ausschnitt aus Neumeiers annähernd 100 Arbeiten in 20 Jahren.

Diese Rückschau – die Nijinski- Gala, der traditionelle Höhepunkt und Abschluß der Ballett-Tage, brachte ebenso fast ausschließlich Neumeier-Stücke – zeigte allerdings augenfällig Stärken wie Schwächen in Neumeiers Schaffen. Die Arbeiten aus den siebziger und frühen achtziger Jahren gehören zu den ganz großen Glanzlichtern der internationalen Choreographie – das umfaßt die neu erarbeiteten großen Klassiker wie „Nußknacker“, „Romeo und Julia“, „Schwanensee“ ebenso wie die Literatur-Ballette „Die Kameliendame“ und „Endstation Sehnsucht“ (eine Ausnahme: es entstand 1987), „Don Quixote“, der „Sommernachtstraum“ oder auch die damals unerhörte und immer noch faszinierende tänzerische Interpretation der „Matthäus-Passion“. Neumeier hat ganz zweifellos dem Tanz Werke beschert, die den Vergleich mit den ganz großen Choreographen – John Cranko, Maurice Béjart oder Klassikern wie Sergej Diaghilew und Marius Petipa keineswegs scheuen müssen. Viele seiner Gruppenszenen, vor allem die für Männer, viele seiner Soli und Pas de deux sind einzigartig in ihrer tänzerischen Intensität, Phantasie und Kraft. Und an seine Version von Strawinskis „Le sacre du printemps“ (bei den Ballett-Tagen mit Heather Jürgensen in der Rolle der für das Opfer Auserwählten leider völlig fehlbesetzt) reicht nur noch Béjart oder die Original-Fassung Waslaw Nijinskis aus den 20er Jahren heran.

Und dennoch machte die Retrospektive auch deutlich, daß Neumeier dringend der schöpferischen Pause bedarf. Seine jüngeren Choreographien zeigen mit ganz wenigen Ausnahmen (dazu gehört Mozarts „Requiem“, das für die Salzburger Festspiele in der Felsenreiterschule entstand und das Neumeier genial mit gregorianischen Gesängen kombiniert), daß ihm langsam die Luft ausgeht. Seine Körpersprache hat sich in den vergangenen sechs bis acht Jahren weitgehend erschöpft. „Fenster zu Mozart“, „Mozart oder Themen aus ,Wie es Euch gefällt‘“, streckenweise sogar „Peer Gynt“ oder die jüngste Uraufführung „Bernstein-Serenade“ greifen auf immer wieder die gleichen Bewegungsabläufe und -elemente zurück. So erscheint vieles, was ehedem erfrischend neu war, im nunmehr x-ten Aufguß nur noch schal und langweilig.

Das liegt nicht daran, daß Neumeier einfach mal einen Flop produziert hat – das unterläuft jedem Choreographen und auch Neumeier wurde beispielsweise seine unsägliche Gershwin-Produktion „Shall we dance“ verziehen. Nein, Neumeiers Ausgebranntsein ist hausgemacht. Er stellt an sich einen schöpferischen Anspruch, dem kein Künstler der Welt gewachsen sein kann. So gehört es zu seinen größten Untugenden, alles – auch Bühnenbild und Kostüme – viel zu oft selbst machen zu wollen. Gast-Choreographen holt er sowieso selten ins Haus.

Wenn es geschieht, kommt allerdings höchst Bemerkenswertes dabei heraus, wie die Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, wenn Neumeier Mats Ek oder Maurice Béjart das Feld überließ oder Stücke von Hans van Manen, Jiři Kylián, José Limón oder William Forsythe übernahm.

Neumeier bräuchte eine kreative Pause, um die hervorragenden Tänzer(in)nen, die ihm mit Solist(in)nen wie Gigi Hyatt, Gamal Gouda, Bettina Beckmann, Ivan Liska, Anna Polikarpowa zur Verfügung stehen, nicht zu verschleißen. Er selbst hat in der Zeit das Stichwort gegeben. Jeder Universitätsprofessor bekomme ein „sabbatical year“, eine Auszeit zum Atemschöpfen und Regenerieren, meinte er, warum also nicht ein Künstler wie er, dessen Batterien schließlich auch einmal nachgeladen werden müssen?

Aber so etwas will finanziert sein. Ein Vertreter müßte die Hamburger Kompagnie während Neumeiers Schaffenspause in der gewohnten Qualität weiterführen. Die Gelegenheit ist günstig, denn es böte sich wirklich jemand an: Mats Ek, der Schwede, der erst Ende 1992 mit großem Erfolg „Gras“ und „Meinungslose Weiden“ für die Hamburger schuf und dessen revolutionäre Interpretation des Tanz-Klassikers „Giselle“ bei den Ballett-Tagen bejubelt wurde wie selten eine Vorstellung in der Hamburger Oper. Mats Ek hat die Direktion des Cullberg- Balletts in Stockholm in diesen Tagen niedergelegt, weil die Stadt ihm verwehrte, was Hamburg Neumeier ermöglichte: ein eigenes Haus. Was liegt also näher, als diesem so phantasievollen Künstler eine so lebendige, formbare und nach Neuem gierende Tänzer(in)nen-Gilde anzuvertrauen wie das Hamburger Ballett?

Mehr noch. Warum nicht die Tore des Ballett-Zentrums öffnen für so kreative Geister wie Verena Weiss, die jüngst trotz ihres großen Erfolges aus der Experimentierbühne des Hamburger Schauspielhauses, dem „Malersaal“, vertrieben wurde mit dem Argument „kein Geld“. Warum nicht den jungen Choreographen in der Hamburger Kompagnie die Möglichkeit geben, sich zu produzieren; die logistischen Qualitäten des Ballett- Zentrums zu nutzen, um begabte Tänzer zu fördern, denen ansonsten nur die Alternative bleibt, sich selbständig zu machen wie Martin Stiefermann oder Ralf Dörnen, beide ehemalige Tänzer bei Neumeier.

Tänzer(in)nen müssen tanzen und Choreographen choreographieren dürfen – Neumeiers Verdienst für die nächsten 20 Jahre könnte darin liegen, dafür die Möglichkeiten zu schaffen. Das Hamburger Publikum, von Neumeier zu tanzkundigen und -begeisterten Zuschauern erzogen, würde dies mit Sicherheit zu schätzen wissen. Und die finanzkräftigen Mäzene, die ihm mit diversen Millionen immer wieder unter die Arme gegriffen haben, wenn es an öffentlichen Mitteln haperte, werden ihn im Bemühen, den Ruhm Hamburgs als „Ballettnarren- Stadt“ (wie August Everding es launig formulierte) zu festigen, sicher nicht im Stich lassen, wenn die Stadt ihr Säckel doch fester zuschnüren sollte als erwartet.