„Armut macht gewalttätig“

Indien: Menschenrechtsverletzungen als Spiegel der Unterentwicklung / Schwache Institutionen, immer repressivere Gesetze  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Third Degree ist der in Indien geläufige Ausdruck für eine weitverbreitete Form der polizeilichen Ermittlung: Um ihn zum Geständnis zu bringen, wird der Untersuchungshäftling mit Stockhieben traktiert. Hauptinstrument ist dabei der Lathi, der mit Blei gefüllte Bambusstock. Er wird beim Verhör „dritten Grades“ vielfach verwandt: zum Prügeln des Gesässes eines ertappten Taschendiebs bis zum Zertrümmern von Gliedmaßen, dem Wunddrehen der Magenorgane und der gewaltsamen Penetration der Körperöffnungen. Der Effekt läßt sich an einem Bericht von amnesty international über „Folter, Vergewaltigung und Tod in der Haft“ ablesen. Für die letzten sieben Jahre konnte amnesty 415 Todesfälle dokumentieren – die Dunkelziffer dürfte weit größer sein.

Der Bericht zeigte der internationalen Öffentlichkeit, was in Indien dank Menschenrechtsgruppen und einer aufsässigen Presse längst bekannt ist: daß verschiedene Formen der Folter in der Praxis der Staatsorgane aller 25 Bundesstaaten zum Alltag gehören. Der offizielle Verputz eines Landes, das stolz auf seine gewaltfreie Tradition ist und sich als ein Vorkämpfer für Menschenrechte sieht, ist damit weiter abgebröckelt.

Erwartungsgemäß wurde der amnesty-Bericht von der Regierung zunächst scharf zurückgewiesen, vor allem dessen Behauptung, daß nur in elf der 415 Fälle Untersuchungen gegen die Täter angeordnet, diese nur in sieben Fällen durchgeführt wurden und daß es nur in drei Fällen zu Verurteilungen von Polizisten kam. Der Polizeichef von Neu-Delhi, Vijay Karan, hatte als einer von wenigen Funktionären den Mut, die weitverbreitete Praxis „informeller Tortur“ zuzugeben. Er verbot die Anwendung von Third Degree- Methoden, und binnen Jahresfrist ging der Anteil von Todesfällen im Polizeigewahrsam in der Hauptstadt um beinahe die Hälfte zurück.

Die meisten Polizeibeamten fügen sich nur widerwillig in die Verordnung ihres Chefs. „Was soll ich denn tun? Dem Verdächtigen Tee anbieten und ihn höflich bitten, ein Geständnis abzulegen?“ meint ein Wachtmeister im lokalen Polizeiposten. Er wehrt sich gegen den Vorwurf der Brutalität und fragt, wie die Polizei denn vorgehen solle: „Jährlich werden allein in der Hauptstadt über 40.000 Kriminalfälle registriert – vom Diebstahl bis zum Mord. Die verängstigte Bevölkerung, die Politiker, die eigenen Chefs – sie alle wollen eine rasche Aufklärung. Aber wenn kein Geständnis kommt, ist der Dieb morgen wieder frei.“

Professionelle Kriminelle wissen die Vorteile eines ausgebildeten Rechtssystems oft auszunutzen. Der Bettler, der Zeuge eines Raubes und von der Polizei zur Vernehmung abgeführt wird, riskiert dagegen, zuerst weichgeschlagen zu werden und dann in den Mühlen der Justiz hängenzubleiben. Bei der chronischen Überlastung der Gerichte – 1992 waren allein vor dem Obergericht in Neu- Delhi 126.000 Fälle anhängig – kann es passieren, daß er dann jahrelang in der Untersuchungshaft verschollen bleibt.

Die Härte des Überlebenskampfs

„Armut macht brutal“, meint Surendra Rao, ein in Delhi wohnender Südinder, auf die Frage nach den Ursachen der weitverbreiteten Gewalt in indischen Gefängnissen. Das idyllische Bild des armen, aber rechtschaffenen Slumbewohners oder Dorfbauern ist für ihn eine Travestie der Realität: Der tägliche Kampf um das knappe Überleben macht Härte zu einem Mittel der Selbstbehauptung. Ein autoritäres Sozialsystem macht die Schwachen – Kastenlose, Frauen, Kinder – zu Unterdrückten. Und der Polizist, meist aus dem Heer der Armen rekrutiert, potenziert mit den Machtinstrumenten des Staates die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit. Dazu kommt, daß die Polizei schlecht ausgebildet ist, schlecht bezahlt wird und einem Staat dient, der seine institutionellen Schwächen zunehmend durch repressive Gesetzgebung zu kompensieren droht.

In einem Vortrag rief jüngst der srilankische Staatsrechtler Neelan Tiruchelvam in Erinnerung, daß die Staaten Südasiens strukturell überfordert sind: Sie sollen gleichzeitig ihre staatlichen Institutionen ausbilden, eine politische Konsolidierung ihrer Gesellschaften bewerkstelligen und dazu noch rasche ökonomische Entwicklung zustande bringen.

All dies hat in einem demokratischen, „menschenrechtsfreundlichen“ Kontext abzulaufen, und die zwei Prozent, die diese Staaten vom Welteinkommen verdienen, müssen sie für 22 Prozent der Bevölkerung des Erdballs einsetzen, von denen rund die Hälfte unter der Armutsgrenze lebt, das heißt nicht mit eigener Anstrengung überleben könnte. Indische Politiker weichen beim Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen deshalb oft auf das Argument aus, daß die klassischen Persönlichkeitsrechte im Konfliktfall hinter den fundamentalen Rechten von Nahrung, Kleidung und Wohnen zurückstehen müssen. Dies widerspricht allerdings der offiziellen Haltung des Landes in internationalen Foren, wo das Land immer wieder die Unteilbarkeit der Menschenrechte betont hat.

Die Schwäche staatlicher Institutionen zeigt sich besonders deutlich in ethnischen Konflikten wie jenen in Assam und Kaschmir. In keiner dieser Situationen ist es dem Staat bisher gelungen, mit politischen Mitteln eine Konsolidierung der Auseinandersetzungen zu erreichen. Gerade in Kaschmir zeichnen sich die Folgen drastisch ab: Nachdem die politischen Parteien nach 1990 sich als unfähig erwiesen haben, die Autonomiebestrebungen der Kaschmiris politisch zu kanalisieren, begann der indische Staat, den repressiven Apparat so massiv zu verstärken, daß sich die Provinz fast von selbst in die Spirale von Repression zu Auflehnung, von da zu militärischer Gewalt und Terror steigerte. Der daraus resultierende Bürgerkieg hat zur systematischen Verletzung von Menschenrechten geführt: Vermeintliche oder bewußte Provokationen der „Militanten“ führen zu großflächigen Vergeltungsmaßnahmen, in denen die Zivilbevölkerung Opfer von Vergewaltigung, Folterung und Erschießen wird.

Zum repressiven Inventar des Staates gehört die Gesetzgebung. Um der vielen ethnischen Konfliktherde Herr zu werden, hat sich Indien in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Gesetzen zugelegt, deren Schärfe im Namen der Einheit des Staatswesens gerechtfertigt wird. „Im Interesse der Integrität des Gesamtstaats wird aber“, sagt der Menschenrechtsaktivist Ravi Nair, „die persönlichkeitsrechtliche Integrität des einzelnen Staatsbürgers gravierend verletzt“: Gesetze wie der „Terrorist and Disruptive Activities Act“ (TADA) erlauben es den Staatsorganen, Verdächtige bis zu einem Jahr in Untersuchungshaft zu behalten, diese in einem Sondergericht aburteilen zu lassen, die Verhöre unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu führen und den Unschuldsbeweis dem Verhafteten aufzubürden. TADA widerspricht damit klar dem Internationalen Abkommen über zivile und politische Rechte, das Indien 1979 ratifiziert hat.

Mit Ausnahmegesetzen gegen den Autodieb

Besonders schwerwiegend sind solche Ausnahmegesetze, wenn sie sich an die Stelle der regulären Rechtsordnung setzen und auch für den „Normalfall“ herhalten müssen. Die Überforderung der Polizei bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Überlastung der Justiz stimulieren die Tendenz, sich im Interesse einer raschen Erledigung eines Falls der bestehenden Ausnahmegesetze zu bedienen. Indische Zeitungen berichten zunehmend von Fällen, in denen gewöhnliche Autodiebe und Einbrecher mit Hilfe des TADA unter Anklage gesetzt werden. Vor kurzem richtete Premierminister Narasimha Rao ein Schreiben an die Gliedstaaten, in denen er diese aufforderte, alle TADA-Verhafteten, die bereits über ein Jahr ohne Anklageerhebung in Haft sind, zu entlassen. Die Economic Times empörte sich zu Recht darüber, daß es trotz des riesigen Justizapparats eines Briefs des Premiers bedurfte, um Tausenden von Unschuldigen die Freiheit zurückzugeben, die ihnen nie hätte genommen werden dürfen.

Die indische Regierung hat kürzlich beschlossen, eine unabhängige Menschenrechtskommission einzusetzen, die Vorwürfe über Verletzungen untersuchen und gegen die Täter Anklage einleiten kann. Sie antwortet damit auf den steigenden internationalen Druck, der das Land zur Beachtung seiner vertraglichen und verfassungsmäßigen Pflichten zwingen soll.

Die Schaffung eines UNO- Hochkommissars für Menschenrechte hat Neu-Delhi jedoch – ebenso wie andere Entwicklungsländer – bei der Wiener Menschenrechtskonferenz im Juni abgelehnt. Dahinter steht die Furcht, daß internationale Organisationen immer stärker auch in politische Konflikte eingreifen können, die bisher der alleinigen Souveränität des einzelnen Staates anheimgestellt waren. Im Anschluß an die Wiener Konferenz scheint sich jedoch bei der indischen Regierung ein Sinneswandel anzubahnen und die Existenz eines Hochkommissars als kleineres Übel angesehen zu werden. Der Grund liegt vor allem in der publizistischen Effizienz, mit welcher private Menschenrechtsorganisationen wie Asiawatch und amnesty international die internationale Öffentlichkeit zu mobilisieren vermögen. Die Einsetzung einer UNO-Institution könnte, so hofft die Regierung, mehr „Objektivität“ in der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen gewährleisten.