Aufräumen – ganz unten

Eine Überlebensgemeinschaft Obdachloser droht durch eine „ordnungspolitische Maßnahme“ der Stadt München heimatlos zu werden / Heute soll die Wittelsbacher Brücke geräumt werden  ■ Aus München Corinna Emundts

Es regnet. Dennoch versammeln sich Touristen wie immer auf dem Marienplatz, um dem Glockenspiel vom Rathausturm zu lauschen. Unter den Arkaden haben Obdachlose Schutz gesucht. Sie wirken nüchtern, pöbeln nicht. Pünktlich um 11.15 Uhr, als sich die letzten Klänge und Touristen verflogen haben, fordert ein Polizist die Obdachlosen auf zu gehen. Als sie sich weigern, holt er Verstärkung: Sechs Polizisten samt Streifenwagen räumen die Gruppe schließlich ab.

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Es riecht nach Urin vor Dieters Lagerstätte. „Ich gehe hier nicht weg; wir räumen nicht, da müssen die mich schon eigenhändig wegtragen“, schimpft er in seinen Rauschebart. Dieter ist schwerbehindert und bettlägerig. Seine „Kameraden“, wie sich hier alle nennen, bringen ihn mehrmals täglich zum plastikblauen Klohäuschen neben der Brücke, waschen ihn, bringen Essen und holen sein Geld für ihn vom Sozialamt ab. „Ohne die wäre ich aufgeschmissen“, sagt er und streicht über die angeschmutzte Schafwolldecke.

Wo anfangen? Beim Kirchentag vor drei Wochen zum Beispiel, als sich rund 2.000 Besucher zu einem Gottesdienst mit den Bewohnern der Wittelsbacher Brücke und einem eigens aus Berlin geflogenen Pfarrer einfanden. Genau an diesem Abend war es, als die Thalkirchener Holzbrücke über der Isar in Flammen aufging – verursacht durch eine betrunkene Obdachlose, der ein Feuer außer Kontrolle geraten war.

Kurz darauf erhielten die Bewohner der aus Stein gebauten Wittelsbacher Brücke einen Teilräumungsbescheid der Stadt. „Akute Brandgefahr“ und „Verletzung des Landschaftsschutzes“ war die Begründung, mit der sie aufgefordert wurden, sämtliches Mobiliar zu entfernen. Es ist derselbe Tag, an dem Bayerns neuer Ministerpräsident verkündete: „Die fetten Jahre sind vorbei.“

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Die Wittelsbacher Brücke ist die Stammbrücke der Münchner Obdachosen. Schon vor 25 Jahren wurden hier Bewohner gesehen. Die jetzige Gemeinschaft lebt seit rund sechs Jahren in Bretterverschlägen unter den hallenartigen Steinbögen. Nicht wenige der Passanten kommen bei dem Anblick ins Schwärmen, „romantisch“ sei das, ein wenig wie die Clochards am Pont Neuf in Paris. Nur durch den westlichen Bogen der Brücke fließt die Isar, die drei anderen fußen auf dem grünen Isarhochbett, den weitläufigen Isarauen. Bei schönem Wetter kommen hier täglich Hunderte von Spaziergängern, Hundehaltern und Radfahrern vorbei, laufen und fahren mitten durch die Behausung.

An warmen Morgen stellen sich die Bewohner von „Bogen drei“ einen Tisch auf die Wiese. Ein Schluck Weinbrand aus dem Kirchentagsbecher zum Frühstück. Katerstimmung. Zeitungsartikel werden herumgereicht. Günther, 45, rollt sich eine neue Zigarette. „Was soll das?“ fragt er durch die schwarzen Ruinen seines Gebisses in die Runde, „Armut ist keine strafbare Handlung.“

Als 1984 seine Frau starb, war sein bürgerliches Leben beendet. Günther ging „auf Platte“. Seit sechs Jahren lebt er in unregelmäßigen Abständen unter der Brücke, im Sommer arbeitet er gelegentlich auswärts als Eisenflechter. Wenn er mal Geld übrig habe, gebe er es seiner Tochter.

Klaus, 38, hat sich eben im Männerwohnheim „Pillewille“ rasiert und geduscht. Sein Schnurrbart ist gepflegt, unter seinem aufgeknöpften Hemd sind eine große Brustnarbe und Tätowierungen sichtbar. Er steht unter Dringlichkeitsstufe eins auf der Warteliste für Sozialwohnungen. Seit einem Jahr hat er auch eine Matratze samt Bretterverschlag hier liegen.

Plötzlich blicken alle nach oben. Ein Rentner wirft eine Plastiktüte mit einem alten Anzug zu ihnen hinunter, seine Frau schaut stolz zu. „Das passiert hier jeden Tag – Kleider, Möbel, Essen, die mögen uns“, erklärt Günther, der wie alle hier entschieden dagegen ist, „auf der Straße zu betteln“. Diese Spenden sollen nun mit der Räumung ein Ende haben. Eben kommt ein Spaziergänger mit Polohemd und Hund Paulinchen vorbei. „Das ist eine Sauerei, was die mit euch machen“, sagt er, „aufräumen wollen die – ganz unten.“ Beim Weggehen ruft er ihnen noch zu: „Stur bleiben, ihr seid nicht allein!“

Die etwa 30 Brücken-Bewohner schalten tatsächlich auf stur. Sie wollen nicht wahrhaben, bald ihre Möbel von der Brücke entfernen zu müssen. Trotzig erzählen sie, sie hätten keine Angst. Alle seien auf ihrer Seite: die Bevölkerung, die Polizei, ihre Freunde bei der Kirche. Auch der Kioskbesitzer am Ende der Brücke ärgert sich. „Die tun ja niemandem was.“

Für die Brückenbewohner, zu denen auch drei Frauen zählen, ist die Kommune eine Art Überlebensgemeinschaft. Zwar sind sie durch das staatliche soziale Netz gefallen, haben ihrerseits aber unter der Brücke ihr eigenes Netz geknüpft. Jeder von ihnen betont die außergewöhnliche „Gemeinschaft“. Abends rufen sie sich durch den ganzen Brückenbogen „Gute Nacht“ zu. Die zwei Bettlägerigen in „Bogen zwei“ sind nie alleine, vor ihnen ist der von einem gespendeten Generator betriebene Fernseher im Holzkasten aufgestellt. Dort ist der Treffpunkt für diejenigen, die tagsüber da sind. Einige von ihnen gehen regelmäßig in die Beratung ins Obdachlosenwohnheim für Männer oder in eine Teestube. Zehn Minuten entfernt vermittelt ein Job-Schnelldienst vom Arbeitsamt befristete Jobs auch an die Brückenbewohner. Fast täglich schauen die Heilsarmee, Mitarbeiter des Arbeitskreises Armut der St.-Lukas- Kirche oder der Künstler und Freund Otto Göttler vorbei. „Wenn diese Gruppe zwangsaufgelöst wird, bedeutet das, daß mehrere Leute vor den Hund gehen werden“, prognostiziert Göttler. „In München wird nicht Armut bekämpft, sondern der Arme“, meint Pfarrerin Uli Aldebert.

Zwar haben alle theoretisch die Möglichkeit, in einer Obdachlosenunterkunft zu wohnen. Doch viele werden von den dort herrschenden strengen Regeln abgeschreckt. „Eine soziale Eingliederung in ein Heim würde für die Leute eine Vereinsamung bedeuten, weil der Zusammenhalt weg wäre“, sagt auch die zuständige Mitarbeiterin im Sozialreferat der Stadt München, „es wäre am sinnvollsten, sie unter der Brücke zu lassen.“

Wenn Erich, 39, im Heim wohnte, könnte er nicht mit seiner Freundin zusammensein. Hier unter dem Brückenbogen haben er und Claudia einen gemeinsamen Verschlag. Seitlich sind Bretterwände eingezogen, vorne hängt an einer gespannten Schnur eine Wolldecke. Innen zwei Holzkommoden und eine Matratze. Drei verwelkte Rosen stehen in einer Bierflasche auf dem Regalbrett, Bücher, ein Foto von einem Säugling. Es zeigt den Sohn Claudias, der bei deren Schweser aufwächst. In einer Kommode liegen säuberlich gefaltet Unterwäsche und Handtücher.

Drei Uhr nachmittags. Krisensitzung am Bett von Dieter, zusammen mit Otto Göttler und Kirchentagspfarrer Jürgen Fliege, der wieder eigens aus Berlin anreiste – „ich kann nicht am Kirchentag eine Predigt halten und mich dann nicht mehr drum kümmern“. Fliege bespricht mit den Obdachlosen, was sie gegen die Mobiliar- Räumung unternehmen können. Ein Rechtsanwalt ist bereits eingeschaltet worden; eine Demo organisieren will Jürgen Fliege – und Feuerlöscher kaufen, „als Zeichen, daß wir die Stadt ernst nehmen“.

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Armut in München. München habe sich zum „Prototyp der Zweidrittelgesellschaft“ entwickelt, sagt der Dortmunder Stadtsoziologe Klaus M. Schmals, der über dieses Thema seit Jahren forscht. Es wurden vor allem Arbeitsplätze für qualifizierte Beschäftigte geschaffen, die auch hohe Mieten zahlen können. Ein Drittel der Münchner dagegen lebt bereits am Rande der Armut. Seit 1980 hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger mehr als verdoppelt, 1992 waren es 40.106 Menschen. Ebenfalls verdoppelt hat sich in dieser Zeit die durchschnittliche Höhe der Mieten. Das Münchner Sozialreferat geht von 12.000 „Menschen ohne festen Wohnsitz“ aus, Sozialarbeiter schätzen die Zahl auf 16.000, von denen 2.000 auf der Straße leben.

Am 12. September wird in München ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Christian Ude hat bis zur Wahl das Amt schon inne. Auf Wahlplakaten verkündet er, er sei gegen „Mietwucher“ und „Vertreibung“. Sein Konkurrent Peter Gauweiler (CSU) wirbt ebenfalls schon mit seinem Konterfei in der Stadt.

Als früherer Kreisverwaltungsreferent fühlte sich Gauweiler persönlich bemüßigt, die Obdachlosen rund um das Rathaus von ihren Stammplätzen zu entfernen. Sein Nachfolger im Kreisverwaltungsreferat, Peter Uhl (CSU), ist für die aktuelle Teilräumungsklage verantwortlich. Bereits im August 1990 hatte er versucht, die Obdachlosen unter den Brücken verschwinden zu lassen. Dieses Mal hat er mehr Aussicht auf Erfolg. Der Brand an der Thalkirchener Holzbrücke war Anlaß für eine feuerpolizeiliche Untersuchung an der Wittelsbacher Brücke, wo man Brand- und Lebensgefahr für die Obdachlosen feststellte.

OB Christian Ude unterstützt die „ordnungspolitische Maßnahme“. Uns sagt er, er wolle die Leute nicht vertreiben, dennoch könne er das Mobiliar und auch die Bretterverschläge nicht dulden. Hier fange die „Verslumung der Stadt“ an. Er könne auch nicht „15 Obdachlosen eine derartige Sonderstellung“ einräumen. „Stellen Sie sich vor, es spricht sich in Ostdeutschland herum, daß man in München mit einem Gaskocher unter jeder Brücke wohnen kann.“

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Letzte Beobachung: Am Laternenpfosten neben dem Brückenkiosk klebt versiegelt eine „Allgemeine Verfügung“ der Stadt, die besagt, daß möbliertes Wohnen unter der Brücke von sofort an strafbar sei. Unten in den Isarauen klebt sie sogar in doppelter Ausführung an einem Baum. Am Morgen war ein Angestellter des Kreisverwaltungsreferats da und hatte 28 Teilräumungsbescheide verteilt, adressiert an jeden einzelnen mit dem Zusatz „o.f.W.“ – „ohne festen Wohnsitz“.

Ude versucht, noch eine Kompromißlösung zu finden. Die Bretterverschläge, Stühle, Tische sollen zwar weg, aber für den Verbleib der Matratzen will er sich einsetzen. Bei seinem Widersacher Uhl wird er damit keine Unterstützung finden. Der will – nun endlich – die Räumungsaktion durchziehen. Heute, Dienstag, sollen die Sperrmüllfahrzeuge anrücken.