■ Die Paradoxien von Basisdemokratie in etablierten Parteien
: Die Gefahr der Scheinpartizipation

Die Hilflosigkeit der Parteien nimmt zu. Ausgerechnet mit innerparteilicher Basisdemokratie soll nun die Politikverdrossenheit gebannt werden. Mit der Befragung aller Parteimitglieder über die Besetzung des höchsten Parteiamts hat die SPD jüngst einen Anfang gemacht. Die Vorstellung, direkte Demokratie könne als problemlose Ergänzung der Kampforganisation Partei dienen, wird Schiffbruch erleiden. Sollte man die Sache wirklich verfolgen, werden sich die Parteien verändern, allerdings anders, als es der naive Optimismus heute annimmt.

Die Stärkung der plebiszitären Komponente im Staat (die ich unterstütze) ist etwas ganz anderes als der plebiszitäre Umbau der Parteien, über den jetzt diskutiert wird. Beim staatlichen, noch mehr: beim kommunalen Referendum besteht die Chance, direkt zur Sache mitzuentscheiden, ParteibürgerInnen dagegen müssen eine Reihe taktisch-strategischer Gesichtspunkte miteinfließen lassen – tun sie dies nicht, verfehlen sie die spezifische Funktion von Parteien, die in erster Linie Konkurrenzangebote zu unterbreiten haben. Führte man die Direktwahl der/ des Parteivorsitzenden und (in den Großparteien) die verbindliche Nominierung der KanzlerkandidatIn sowie Urabstimmungen über zentrale Politikfragen ein, würde man paradoxerweise die Aktivkräfte schwächen und ein System plebiszitärer Führerherrschaft fördern. Meine Grundthese lautet, daß direkte Demokratie mit der Parteiform auf der zentralen Ebene nicht vereinbar ist und daß dieser Widerspruch in den führungszentrierten Konkurrenzorganisationen, die insbesondere die Großparteien sind, im Zweifel manipulativ und herrschaftlich von oben aufgelöst wird. Dazu einige Gesichtspunkte.

Aktivierung mit kontraproduktiven Folgen

Die Abstimmungsdemokratie der Inaktiven (deren Mitgliedschaft nur am – per Dauerauftrag überwiesenen – Beitrag feststellbar ist) unterminiert die Anreize für aufwendigere Aktivitäten. Warum sollten rational kalkulierende Individuen regelmäßig aktiv sein, wenn sie sowieso an direkten Entscheidungen über die wichtigen Fragen beteiligt sind? Das Ziel einer Aktivierung von Mitgliedern wird mittelfristig das Gegenteil zur Folge haben: Viele der sowieso nur etwa 15 Prozent Aktiven regredieren zu passiven Mitgliedern.

Wenn es unter dem Aktivierungsaspekt kontraproduktiv ist, die Passiven-Demokratie auszubauen – sprechen dann größere Weisheit und Weitblick der Mitglieder für deren stärkere Einbeziehung? Innerparteiliche Diskussionen sind ja nur aus der Verdrossenheitsperspektive Verblödungsvorgänge, in Wirklichkekt finden dabei ja auch Klärung, Informationsverdichtung, Selbstverständigung statt. Vor allem strategisch zu debattierende Personal- und Koalitonsentscheidungen eignen sich wenig für ausgedehnte Mobilisierungen und Vermittlungen. Auch gehen die Orientierungen auseinander: Professionelle und semi- professionelle Kerne der Parteien sind eher zu strategischem Denken bereit und in der Lage als identitätssuchende und vor allem: -bewahrende Mitglieder.

Management der Vielfalt statt dualistische Reaktion

Die Großparteien sind führungszentrierte, strategisch handelnde Zweckorganisationen. Sie agieren unter den Bedingungen von Konkurrenz und „Kampf“: bei der Wahl und beim Dauerkonflikt zwischen Regierung und Opposition. Eine für Mitglieder autonomere Form von Basisdemokratie, bei der die Mitglieder auch anders entscheiden können, als man von ihnen erwartet, kommt nur zustande, wenn man intern eine „Minimisierung von Herrschaft“ (M. Weber) und extern eine Abkopplung vom harten Konkurrenz- und Wahlerfolgs-Mechanismus anstrebte. Es ist bei den etablierten Parteien niemand in Sicht, der eine solche Konsequenz von Basisdemokratie wollte, niemand, der wegen interner Demokratisierung den Erfolg seiner Partei aufs Spiel setzen würde.

Bleibt man aber im System einer elitengesteuerten Organisation, dienen innerparteiliche Referenden den konsultativen Oligarchien an der Spitze der Parteien nur als zusätzliches Mittel der Mitgiedermanipulation. Den Anfang hat Scharping selbst gemacht: Von den Mitgliedern als Vorsitzender gekürt, beraubt er gleich anschließend – durch unmittelbaren Druck auf den verbliebenen Konkurrenten Lafontaine – die Mitglieder der zunächst vorgesehenen Möglichkeit, in einem offenen Verfahren auch über den Kanzlerkandidaten zu entscheiden. Da ein Mitgliedervotum gegen die Führung diese in der Parteienkonkurrenz entwertet („de-legitimiert“), wird die Führung alles unternehmen, in einer wichtigen Frage nicht überstimmt zu werden – daraus ergeben sich besonders abstoßende Formen von Scheinpartizipation.

Schon die Einführung direkter Demokratie in etablierten Parteien wird zu einer Frage des Wettbewerbs. Zwar gibt es Gewinne für die Partei, die die Initiative ergreift. Sobald die Innovationsprämie abkassiert wurde (ist bereits geschehen), verlagern sich die Vorteile auf die Konkurrenten, die von der Uneinigkeit des Gegners (ohne Alternativen braucht man keine Abstimmungen), dessen Beschäftigung mit sich selbst und dessen Verschwendung knapper Ressourcen (Geld, Aktivenzeit, Aufmerksamkeit etc.) profitieren.

Ein Trend in allen Parteien heißt heute: Fragmentierung. Um mit dieser Vielfalt von Interessen, Werthaltungen, Subkulturen produktiv umzugehen, sind rohe demokratische Mittel in Form von Ja/ Nein-Entscheidungen völlig ungeeignet. Wenn Parteien aus einer Vielzahl von Minderheiten bestehen, gibt es bei solchen Abstimmungen nur VerliererInnen. Erforderlich wäre die Entwicklung eines „Managements der Vielfalt“ (Streeck), nicht der dualistischen Reduktion. Die Zwischentöne, die Vermittlungen, die erarbeiteten Konsense bleiben auf der Strecke. Die Planierraupe der „plebiszitären Herrschaft“ fährt auf, „wo sich der Herr als Vertrauensmann der Massen legitimiert fühlt und als solcher anerkannt ist. Das adäquate Mittel dazu ist das Plebiszit.“ (M. Weber)

In der Grauzone zwischen Mandat und Manipulation

Die Idee der Mitgliederentscheidung wäre nur dann ernst zu nehmen, wenn man mit ihr ernst machte. Dazu gehörte selbstverständlich deren Verbindlichkeit, nicht die Grauzone von „Mitgliederbefragungen“ zwischen imperativem Mandat und innerparteilicher Manipulation. Dazu gehörte auch die selbstverständliche Tolerierung aktiver Richtungsgruppen bzw. Strömungen, die dafür sorgen können, daß gehaltvolle Alternativen und anspruchsvolle Diskurse mit den Referenden verbunden werden. Wenn man durch Plebiszite nicht nur die Führung stärken will – die historisch klar dominante Erfahrung –, müßte man sie einbauen in eine System „elitensteuernder Organisation“ (Inglehart). Dafür gäbe es Vorschläge, aber will sie denn irgend jemand von denen, die heute den basisdemokratischen „Urschrei“ nach „Urwahl“ und „Urabstimmung“ ausstoßen?

Ob die BürgerInnen außerhalb der Parteien – also fast alle – einen Gewinn hätten von einem wirklich basisdemokratischen oder dem zu erwartenden herrschafts-plebiszitären Umbau der Parteien, danach wurde noch gar nicht gefragt. Joachim Raschke

Professor für politische Wissenschaften an der Universität Hamburg