Die HIV-Infektion als Lebensretter

Drogenabhängige infizieren sich mit dem HIV-Virus, um Ersatzstoffe zu erhalten  ■ Aus Dortmund Marc Wiese

Wenn ein Junkie von einem Hochhaus springt, ist er lebensmüde. Ein Junkie, der sich absichtlich mit dem HIV-Virus infiziert, indem er sich HIV- haltiges Blut spritzt, will leben. Uwe M.* wollte leben.

Ein kleines Betonviereck, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof in Dortmund. Vierzig Junkies hocken auf zwei Bänken und einer Steinmauer. Sie warten, daß der Tag zu Ende geht. Ein Warten auf ein Nichts. „Uwe M.? Nie gehört den Namen“, ist die häufigste Antwort, die man zu hören bekommt.

An zwei Seiten des Platzes wachsen dichte Büsche. Sie schützen die PassantInnen vor dem Anblick der Süchtigen. Kommt doch einmal jemand von der offenen Seite, ist ihm meist anzusehen, daß er die Junkies für den Abschaum der Gesellschaft hält. Meistens kommen allerdings Polizisten. Immer zu zweit. Alle zehn Minuten fährt eine Streife vor.

„Ich habe Uwe lange gekannt.“ Ralf hat ihm ab und zu Tabletten verkauft. Seine glasigen Augen können sich nur schwer auf einen Punkt konzentrieren, während er weiterredet: „Aber eigentlich weiß ich nichts über ihn, er war immer sehr unauffällig.“ Der Zusammenhalt in der Szene ist nur vordergründig. In Wirklichkeit kämpft jeder für sich gegen die Sucht.

Uwe wird am 14. Januar 1962 geboren. Die Eltern lassen sich scheiden, als er fünf Jahre alt ist. Die Mutter, eine Postbeamtin, heiratet kurz darauf einen Kollegen. Der Stiefvater lehnt das Kind ab und schlägt es viel. Uwe besucht die Hauptschule und lernt Elektriker. Nach seiner Ausbildung arbeitet er bei der Post, danach geht er zur Bundeswehr. Dort wird er nach einem Monat ausgemustert – er kann sich den starren Gehorsamsprinzipien des Militärs nicht anpassen. Er geht zurück zur Post.

Mit 21 setzt Uwe sich den ersten Schuß. Es folgt die „selbstverschuldete Kündigung“, wie er in einem Lebenslauf schreibt. Der Grund ist seine Abhängigkeit.

Anfang 1985 beginnt für ihn der Gang durch deutsche Gefängnisse und Therapieeinrichtungen. Er wird wegen Heroinbesitzes verurteilt. Die Richter stellen ihn vor die Wahl: Haftstrafe oder Entzug. Er entscheidet sich für eine Therapie. Aus der ersten flieht er nach einem Tag, die zweite bricht er nach acht Monaten ab. Im Herbst 1986 wird er in Holland festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert. Obwohl er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hat, urteilt das Amtsgericht Kleve am 22.10.86: „Es kann nicht verantwortet werden zu erproben, ob der Verurteilte keine Straftaten mehr begehen wird. Der Verurteilte ist offensichtlich noch abhängig, es sind weitere Verstöße gegen das Gesetz zu erwarten.“

Uwe wird nach Bayern verlegt. Er schickt Ende 86 einen Brief an seine damalige Sozialarbeiterin in der Drogenberatungsstelle (DROBS) in Dortmund: eine Zeichnung von einem Mann, der ernst und dumpf durch die Gitterstäbe starrt. Über dem Bild steht: „Viele Grüße aus Traunstein, aus der Justiz-Versuchs-Anstalt sendet Dir Uwe. Ich sitze hier und warte auf meinen Termin, ich habe die Hoffnung, in Therapie gehen zu können nach dem Termin, etwa Mitte Februar. Der Rechtsanwalt war hier und hat mir die Grüße von Dir übermittelt. Hat mich ungemein gefreut, daß doch noch jemand an mich denkt und ich hier in Bayern nicht ganz in Vergessenheit geraten bin. Ich mache jetzt Schluß mit dem Schreiben, weil es mir total schwerfällt, liegt wohl am Knast, daß ich so abstumpfe. P.S.: Nobody is perfect – I'm nobody.“

Seine Hoffnung erfüllt sich vorerst nicht. Er muß noch vier Jahre in Haft bleiben. Erst im Oktober 1990 kann er in Berlin erneut versuchen, clean zu werden. „Er sagte, die Therapie sei die letzte Möglichkeit zu überleben“, erzählt Michael Krehl, der ihn damals in der DROBS betreute. Uwe schafft es nicht, flieht nach drei Monaten zurück nach Dortmund. Hier trifft er Kerstin, die ebenfalls abhängig ist.

Ein Hochhaus im Dortmunder Norden. In dem 17stöckigen Wohnsilo aus Beton und Metall lebt jeder für sich. Der Hinterhof ist mit Glasscherben, Plastiktüten und rostigen Blechdosen übersät. Uwe und Kerstin wohnen im 12. Stock. Ein Zimmer, eine Kochnische, ein Bad und eine Abstellkammer. Kerstin arbeitet auf dem Strich, um die Sucht der beiden zu finanzieren. Sie steht in Sichtweite der Wohnung, vor einer Bäckerei, auf der anderen Seite der Kreuzung. Meistens nimmt sie die Männer, die für dreißig Minuten ihren Körper kaufen, mit nach Hause. Das bringt mehr Geld. Während dieser Zeit wartet Uwe in der Abstellkammer. Zwei mal ein Meter. Ohne Fenster.

Uwe wird immer schwermütiger. Er leidet unter Angstzuständen. In dem kleinen Wohnzimmer liegen überall Waffen. Neben dem Schaukelstuhl steht ein Baseballschläger, in der Couchritze steckt ein Jagdmesser. Immer griffbereit.

Über die DROBS versucht er den Ersatzstoff Polamidon gegen seine Heroinsucht zu bekommen. Hierzu muß er neben seiner Abhängigkeit eine zweite Krankheit nachweisen. Im Oktober 91 gibt ihm eine Ärztin aufgrund seiner Depressionen den Stoff. Seine Krankenkasse weigert sich, die Behandlung zu bezahlen. „Die Leistungsträger erkennen keine psychischen Krankheiten an“, erklärt der Drogenbeauftragte des Landes NRW, Heinz-Adolf Hüsgen. Kerstin bekommt das Polamidon ohne Probleme. Ihre zweite Krankheit ist nicht psychisch: Aids.

Uwe verzweifelt mehr und mehr. Im Herbst letzten Jahres muß er sich dann in dem kleinen Wohnzimmer eine Spritze mit Kerstins Blut und Wasser aufgezogen haben. Er wird wohl lange überlegt haben, bevor er sich das Gemisch verabreichte. Später bestätigt sich: Er ist HIV-positiv. Jetzt ist auch er für seine Kasse krank genug.

Uwe ist kein Einzelfall. „Ich kenne zwei weitere Männer, die sich absichtlich angesteckt haben. HIV-positive Junkies erzählen mir immer wieder, daß sie auf ihre Pumpen angehauen werden“, sagt der Streetworker Achim Dietel. „Mir sind persönlich mehrere Menschen bekannt, die es gemacht haben“, bestätigt ein Mitarbeiter des Dortmunder Gesundheitsamtes inoffiziell. „Meine Schwester ist positiv. Ihr haben Junkies sogar Geld für eine Spritze mit ihrem Blut geboten“, sagt Ralf. Der NRW-Drogenbeauftragte Hüsgen dazu: „In Deutschland wird eine wahnsinnige Drogenpolitik betrieben. Mit ein bißchen Menschenverstand kann man sich ausmalen, daß sich unter diesen Bedingungen der eine oder andere absichtlich mit Aids infizieren wird, um in die Hilfsprogramme zu gelangen.“

Gesundheitsamt der Stadt Dortmund, Polamidonvergabe. Unter dem Vordach des grauen Gebäudes warten etwa zwanzig Abhängige auf ihren Ersatzstoff. Am Wochenende und an Feiertagen holen sich auch Uwe und Kerstin ihre Tagesration hier ab.

Am 13. März erscheinen sie nicht. Normalerweise sind sie immer unter den ersten. Ralf kommt kurz vor Ende der Vergabe zum Gesundheitsamt. Er erzählt: „Uwe wollte vor drei Wochen 200 Schlaftabletten von mir kaufen. Ich habe ihm nur zwanzig gegeben. Aber er hat in der Szene gesammelt. Nachdem ich erfuhr, daß die beiden nicht da waren, sagte ich zu den Leuten im Amt, daß sie sich abschießen wollen.“ Das Gesundheitsamt informiert den Sozialarbeiter Udo Richter. Der findet sie tot vor. „Sie haben alles genommen, was man nehmen kann, Heroin und Tabletten in rauhen Mengen. Das war offensichtlich Selbstmord“, sagt er.

Uwe und Kerstin sind kein Einzelfall. 500 Mark für eine Spritze Blut – dieses Angebot einer jungen Frau ging im letzten Jahr monatelang durch die Szene. „Das ist bodenlos. Es ist ja nicht so, daß die Menschen verrückt sind. Sie sind in einer ausweglosen Lage. Sie sehen keine andere Chance“, sagt Achim Dietel. Der Streetworker weiß, wovon er spricht. Er selbst hat eine Suchtkarriere hinter sich. „Die Verfolgungs- und Kriminalisierungspolitik löst das Problem nicht.“ Er steht vor dem Eingang des Hauptbahnhofes und schaut gedankenverloren zu dem Betonviereck hinüber. „Das müßte alles nicht sein“, fügt er leise hinzu.

Der Gesetzgeber verlangt seit dem 1. Februar 1993 von den Abhängigen keine zusätzliche Krankheit mehr, um Polamidon zu bekommen. In der Praxis hat sich aber nichts geändert. Die Krankenkassen verfahren weiter nach der alten Regelung. Es bleibt dabei: keine Indikation – keine Hilfe.

*(alle Namen der Abhängigen sind geändert)

Vorbereitungen für den nächsten SchußFoto: Marcus Darryl Hirthe