Vom Geist des Weines

■ Die schönste Poesie der Welt — auf einer Bremer Weinkarte / Ein Ausbruch

Nein, man sieht nichts von außen, natürlich nicht; dem flanierenden Bürger ist das „Saxophone“ ein „Steakhouse“ wie alle andern; er strebt daran vorbei und den Ostertorsteinweg hinan und hat schon wieder alles versäumt.

Bürger, trätest du nur ein, würfest einen Blick auf die Karte, tätest sie endlich ganz hinten auf, wo von den Wundern der vorrätigen Weine die Rede geht, Dein kaltes Herz schlüge zum Halse! Von „reintönigen“, ja „feinnervigen“ Weinen ist da zu lesen, von wundersamen „Charakteren“, von braven Weißen mit „aufrechtem Bukett“, von schnippischen Roten mit „quirliger Frische, verführerisch animierend“, ja wir lernen all die „blumigen“ Seelchen in ihrer „gefälligen Wärme“ schätzen und all die „rassigen Körper“ mitsamt ihren „fülligen Anlagen“ begehren wie kaum unseresgleichen, wir gedenken mit Zärtlichkeit ihrer „Nase“, der „gut fundierten“, und wir loben am Ende ein wenig neidisch ihren „geschmackvollen Abgang“.

Abgang! Solche Worte gibt uns niemand als der Dichter ein! „Entre-deux-Mers A.O.C. Blanc de Blancs — Bemerkenswerter Inhalt mit Frucht und Spiel“. Spiel! „Soave Classico Superiore D.O.C. — rassig und überzeugende Weinigkeit“. Weinigkeit! „Marques de Caceres Blanco — frischfruchtige jugendliche Eigenart, dezenter Saft mit pikantem Nachhall“. Nachhall! Leserinnen, Leser: was für ein Dichten tausendschön! Jede dahergelaufene Weinkarte ist schon eine Kostbarkeit und bestickt mit leuchtenden, schillernden, sündteuren Attributen; diese aber, das Werk des Unbekannten vom „Saxophone“, ist nahezu dem Ewigen nah. Und nun lesen Sie, liebe Leser, mit mir gemeinsam und vollends das folgende Gedicht auf einen herrlichen roten Franzosen, und schämen Sie sich nicht Ihrer Tränen:

„Chateau du Grand Mouneys, Schloßabzug — feinartiges“ — feinartiges! — „delikates Fruchtbukett mit tiefgründiger prägnanter Struktur, geschmacklich wohlabgestimmt mit zarten Aromen, Fülle und zukunftsweisendem Tannin“!

Zukunftsweisendem Tannin! Möchte man nicht auf der Stelle vergehen, ja verglühen vor solcher Kühnheit des Stoffs wie der Form? Ermessen Sie, liebe Leser, wie sich die Poesie aus dem Irdischen himmelhoch emporschraubt, in der strukturellen Sphäre schon die zweite Stufe zündet und am Ende einen Salto schlägt direkt in die Gottesunmittelbarkeit? O du zukunftsweisendes Tannin! Wer deiner inne geworden ist, was vermöchte den noch zu schrecken?

Nein, wir geben den Namen des Dichters nicht preis. Möge er ungestört weiterwirken in der Stille seines Steakhauses und Kraft sammeln für den letzten Schritt ins Überirdische:

„St. Schwablonzer Kurfürstlay Trockenbeerenauslese DLG-Silbermedaille — gnadenreiches Bukett, sehr sachkundige Blume, kinderlieb über die Maßen, aber Vorsicht mit Hunden, neigt montags zu Schwermut und Rechthaberei, erschütternd im Abgang.“ Manfred Dworschak

hier Weintrinker

Zukunftsweisendes Tannin, kurz vor Abgang F.: Jörg Oberheide