„Sie bereichern sich an fremder Arbeit“

Amaretto aus Polen, Telefone aus Singapur, Punk-Klamotten aus dem Keller – Das Warenangebot in Moskau ist so groß wie nie zuvor / An den Gewinnen der Kleinhändler verdient auch die Mafia  ■ Von Ulrich Heyden

Sie haben sich wie eine zweite Haut über die russische Normalität gelegt, die Kioske, die in den vergangenen zwei Jahren in ganz Moskau aus dem Nichts entstanden. Zehntausend für eine Zehnmillionenstadt. Auch Andrej arbeitet hier. Der 18jährige studiert eigentlich Rechtswissenschaft. Vom Amaretto aus Polen bis zum Vitaminsaft aus Ostdeutschland, von der chinesischen Zigarette bis zum US-Videothriller verkauft er alles, rund um die Uhr.

Es ist 10 Uhr vormittags. Die Verkäufer sind müde. Der Chef des Ladens, Oleg, ist erst siebzehn. Außerdem arbeiten hier ein gelernter Koch und eine Tierärztin. Die Geldbox aus Pappe ist noch leer. Die einzige Verbindung zwischen Verkäufer und Kunden ist eine kleine waagrechte Öffnung in Brusthöhe, etwa 15 mal 30 Zentimeter groß. Wichtig ist allein die Sicherheit des Kiosks. Wer mit dem Verkäufer sprechen will, muß sich nicht nur bücken, sondern auch den Kopf zur Seite legen. Die Verkäufer werben nicht um die Kunden. Die bunte Ware hinter den Glasscheiben ist Werbung genug.

Nur wenige Meter von Andrejs Kiosk entfernt hat sich die „Verkaufskultur“ völlig gewandelt. Hier verkaufen Aseris aus Baku Obst und Gemüse. Sicherheitsaspekte scheinen dabei keine Rolle zu spielen. Die Leute aus Baku verkaufen offensiv. Wer an einem solchen Stand Tomaten kauft, wird schon mal gefragt, ob er nicht auch noch Bananen oder Mandarinen haben will.

Tatjana Iwanowna, eine 74jährige Rentnerin, muß mit 7.000 Rubeln auskommen. Sie kauft überhaupt nicht im Kiosk, denn ein Liter Saft aus Deutschland kostet dort 1.000 Rubel. Doch auch die Preise der Kaukasier sind ihr zu hoch: ein Kilogramm Bananen für 1.300 Rubel.

Vor allem die älteren Moskowiter sehen die Zwischenhändler als Menschen, die sich an fremder Arbeit bereichern. In früheren Zeiten auf den Kolchosmärkten waren es ja nur die Bauern, die ihre eigenen Produkte anboten. Die Kaukasier, die heute das qualitativ beste und reichhaltigste Angebot an Obst und Gemüse in der Stadt anbieten, sind beliebtes Objekt der Gespräche der Passanten. Und ihrer Haßtiraden. Man nennt sie auch Tschjornije – die „Schwarzen“.

Das Geschäft in Andrejs Kiosk läuft heute vormittag schleppend. Die Kunden wollen nur Kaugummi oder Zigaretten. Andrej meint, für die normalen Bürger seien die Waren im Kiosk zu teuer, deshalb kaufen sie im staatlichen Magasin. Viele kommen nur für russisches Bier oder Süßigkeiten für die Kinder. Doch viele Moskowiter kaufen auch nicht am Kiosk, weil sie denken, daß die Produkte dort von schlechter Qualität sind. Und tatsächlich ist in den Flaschen oft nicht das, was auf dem Etikett steht, ist der Tabak der Marlboro-Zigaretten alt.

Während die anderen Inventur machen, erzählt Andrej seine Geschichte. Die hört sich fast so an wie die vom amerikanischen Tellerwäscher. Angefangen hat er mit dem Verkauf von russischen Souvenirs in Australien. Dort hat er Bekannte. Sein Startkapital, ein paar tausend Dollar, hat er sich von Freunden geliehen. In Singapur kauft er ab und zu größere Mengen Elektronik, Taschenrechner und drahtlose Telefone. Die Ware geht per Air Cargo nach Rußland. In zwei Moskauer Kiosken werden die Produkte dann verkauft.

Andrej klagt über die steigenden Kosten für den Kiosk. Am geringsten sind noch die Kosten für die private Firma, die die Sicherheitskräfte stellt, die man mit einem Alarmknopf herbeirufen kann. Junge Männer in Kampfanzügen mit Gummiknüppeln. 60 Prozent des Umsatzes geht an eine der Mafiacliquen, die den „Kleinhandelsmarkt“ in Moskau unter sich aufgeteilt haben. Es gibt die Moskauer, die russische, die aserbaidschanische, die tschetschenische, die estnische und noch einige andere Mafiagruppen.

Mafia und Staat, das sei, so meint Andrej, fast dasselbe. Zweieinhalb Wochen im Monat arbeitet der Kiosk für die Gelder, die die Mafia und der Staat einkassieren, eineinhalb Wochen arbeiten die Leute im Kiosk für ihren eigenen Gewinn. Und so ist der Markt der Kioske heiß umkämpft. Zwei Drittel der Kioske seien in der Hand von Tschetschenen und Georgiern. Sie sind vor den Kriegen in im Kaukasus nach Moskau geflohen. Doch über die Geschäftskonten der Kioske werden auch die illegalen Geschäfte der Mafia abgewickelt.

In Andrejs Kiosk werden in der Woche Waren im Werte von 345 Dollar verkauft. Zum Vergleich: Das Monatseinkommen eines gutverdienenden Arbeiters liegt in Moskau heute bei umgerechnet 25 Dollar. Die Angestellten im Kiosk sind mit 2 Prozent am Umsatz beteiligt, so daß man im Monat so zwischen 25.000 und 40.000 Rubel (ca. 50 Dollar) verdient.

Die meisten Verkaufsbuden und Straßenhändler fanden sich noch vor wenigen Monaten im traditionsreichen Arbat. Dieser hat sich in den letzten Jahren zu einer reinen Touristenmeile entwickelt. Alte, rote Fahnen, Uniformen – Tausende von Matrjoschkas standen dort in Reih und Glied. Jesus, Stalin, Jelzin – handgemalt.

Doch damit ist jetzt Schluß. Auf Anweisung der Stadtverwaltung wurden Anfang April sämtliche Kioske abgebaut. Der Straßenhandel wurde verboten. Offiziell heißt es, man wolle eine normale Stadtentwicklung, wie sie auch in Stadtzentren Westeuropas üblich sei.

Doch es gibt wohl auch andere Gründe. Denn zeitgleich mit dem Abräumen der Kioske im Arbat hat der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow eine Anordnung zur Eindämmung der westlichen Werbung getroffen. Werbung für ausländische Läden und Produkte soll jetzt nur noch möglich sein, wenn neben dem Schriftzug in lateinischer Schrift ein gleich großer in kyrillischer Schrift zu sehen ist.

Nicht weit von Andrejs Kiosk liegt auch der Modeladen von Kalinka Tekseks. Er gehört einem finnisch-russischen Joint-venture. Am Eingang steht ein Milizionär, bewaffnet mit einer Pistole. Für Läden, in denen mit harten Währungen bezahlt wird, ist diese Art Bewachung üblich. Drinnen fegt eine russische Verkäuferin den Boden. Tarakani, Schaben, erklärt die finnische Geschäftsführerin: „Die Gegend hier ist einfach nicht sauber.“

Und auch mit ihren Verkäuferinnen ist die 32jährige nicht besonders zufrieden. „Sie sind faul im Vergleich zu den Mitarbeiterinnen in Finnland. Man muß sie zu erziehen versuchen, damit man sein Geld mit Arbeit verdient.“ Die Angestellten verdienen für russische Verhältnisse gut, zwischen 30.000 und 42.000 Rubel (50 Mark). Die Ware im Laden wird jedoch ausschließlich gegen Dollar verkauft.

Neunzig Prozent der Kunden des Modeladens sind Russen. Denn die Ausländer können billiger zu Hause einkaufen. Grund für die hohen Preise seien die hohen Steuern in Moskau. Tekseks muß in Finnland und Rußland Steuern bezahlen. Die Kleider werden in Portugal, China – aber auch in Rußland produziert. Doch weil die Produktion von Finnen kontrolliert wird, werden sie mit Schildern „Made in Finland“ versehen. „Die russischen Kunden wollen sehen „Made in Italy“, „Made in Finland“, „Made in Germany“, es muß original sein. Sie können nicht verstehen, warum wir unsere Kleidung in Rußland herstellen.“

„Unser Laden ist einzigartig in Moskau. Wir haben den billigsten Laden in Moskau für junge Leute. Bei uns können sie besondere Klamotten kaufen. Klamotten, wie sie Musiker und Künstler haben, sehr strannij (strange) und originalnij.“ Sweta, eine 18jährige Russin, ist die Managerin des Ladens. Sie studiert an einem College Finanzwissenschaft.

Fast jedes Wochenende trifft man sie im Jerry-Rubin-Club, nicht weit von der Metrostation Profsojusnaja. Der Club wurde nach einem amerikanischen Hippie der sechziger Jahre benannt. Mitten in einer ziemlich heruntergekommenen Plattenbausiedlung, in einem Keller, der früher dem Komsomol gehörte, befinden sich die Räume des Clubs: ein kleiner Raum für Underground-Konzerte und ein Klamottenladen. Hier hängen Hosen und Röcke im Hippie- und Punk-Stil, dazwischen ein paar avantgardistische Objekte. „Auch die Hippies, Heavy-Metal-Fans und die Punks in Rußland haben ein ganzes System, wie sich sich kleiden und benehmen. Mit der Hilfe des Äußeren versuchen sie ihre Sicht des Lebens auszudrücken. Diese besonderen Klamotten gibt es nur handgemacht oder aus dem Ausland.“ Im Laden werden T-Shirts verkauft, von denen es nur eine begrenzte Stückzahl gibt. Sweta zeigt einige T-Shirt-Slogans in russischer Sprache: „Heute spielst Du Punk – Morgen wirst Du eine Bank ausrauben“. Oder „Leute, die Trinken, machen sich selbst verrückt“. Der normale Preis für ein T-Shirt ist 500 Rubel, weitere 500 Rubel kostet der Aufdruck.

Für Jugendliche ist das nicht billig. Die Stipendien für Studenten liegen heute bei 4.000 Rubel. Viele verdienen sich noch etwas dazu oder bekommen Geld von den Eltern. Sweta meint: „Es ist besser, uns Geld für Platten zu geben als für eine Flasche Wodka. Ich sage den Leuten immer so was. Das Ziel meines Lebens ist, den Leuten zu sagen, die beste Droge im Leben ist Musik und Liebe.“

„Der Laden soll so viel Geld einbringen, damit wir unsere Angestellten davon bezahlen können. Dieser Lohn ist sehr gering. Es ist nichts im Vergleich mit den großen Läden oder den Kiosken.“

Die Zahl derer, die heute sozusagen zwischen Wohnung und Straße Geld verdienen, ist groß. Da werden Autos und Fernseher repariert, Pullover gestrickt, Mode entworfen und dergleichen mehr. Da sind zum Beispiel Lena und Vera. Beide sind 29 Jahre alt, beide haben ein Kind. Lena ist Geschichtslehrerin, Vera Technologin. Von dem staatlichen Gehalt können sie nicht leben.

Früher haben Lena und Vera Kleidung für ihre Kinder gemacht. Heute organisieren sie die Produktion von modernen Pullovern und Strickjacken, rund hundert Exemplare pro Modell. Sie besorgen das Material, wählen die Motive aus und suchen Frauen, die die Pullover bei sich zu Hause an gemieteten Maschinen herstellen. Die Pullover werden dann in Kiosken verkauft.

Eine richtige Firma zu gründen, das ist für beide noch zu schwierig. Die Räume und Maschinen sind unbezahlbar, die Steuern zu hoch. Dazu kommt, daß die Mafia neue Anbieter abdrängt. Lena meint, eine Beratung für das kleine bisnes gäbe es so gut wie gar nicht. So werden die beiden ihre Geschäfte erst mal weiter in Lenas kleiner Zweizimmerwohnung abwickeln.