Immer wieder Schneewittchen

Im Hochsprung fliegen nicht nur die Springer und ab und an die Latte, sondern auch die Träume / Das neue Paar: Hendrik Beyer und Ralf Sonn  ■ Von Cornelia Heim

Berlin (taz) – Viel lernen könne er von Heike Henkel, erzählte Hochspringer Hendrik Beyer vor einem Jahr respektvoll während des Trainings unter dem Kuppelzelt von Bayer Leverkusen. Was scherte es ihn schon, daß keine Übungsstunde ohne journalistische Begleitung ablief? Alle Kameraaugen waren schließlich auf eine andere gerichtet: Heike Henkel, die sich gerade anschickte, nach olympischem Gold zu greifen. Damals war Hendrik Beyer 20 und staunender, wenngleich unbeteiligter Beobachter des Spektakels, das sich fast täglich um seine Trainingskollegin herum abspielte. „Wo ist denn der Carlo?“ fragte er, denn am liebsten trainierte er mit seinem großen männlichen Vorbild, Thränhardt sein Name. Heute ist Hendrik Beyer 21 und steht nicht nur selbst im Rampenlicht, sondern hat auch sein Idol, im sport-biblischen Alter von 36 Jahren, überflügelt. Und wiederum ist man geneigt zu behaupten, Hochsprung werde in Leverkusen gemacht, von Trainer Gerd Osenberg nämlich. Hendrik Beyer ist sein jüngstes Kind.

Der Hochsprung-Wettbewerb rückte bei den Deutschen Meisterschaften in Duisburg unversehens in den Mittelpunkt. Und Hendrik Beyer bewies, daß er sich von seinen beiden Trainingspartner einiges abgeguckt hatte. Sein größter Flop ging über 2,33 Meter, im ersten Versuch wohlgemerkt. Damit flog ihm auch der Meistertitel zu, und Ralf Sonn, der die gleiche Höhe wie sein fünf Jährchen jüngerer Konkurrent bewältigte, nur eben erst im dritten Anlauf, mußte sich mit Platz zwei bescheiden.

Vor einem Jahr in München war's noch genau umgekehrt – Sonn vor Beyer, alt vor jung, so lautete die auch nicht ganz problemlose Rangordnung. Hendrik Beyer: „Ich war damals der Neue und Ralf schon groß. Da gab es zwangsläufig Rivalität.“ Diese kleinen Duelle um die abgewandelte Schneewittchen-Frage „Wer ist der Größte im ganzen Land?“ werden ja nun nicht gerade selten ausgefochten. Man denke an Becker/Stich. Man denke aber auch an das Gerangel um die Lufthoheit der achtziger Jahre zwischen Mögenburg/Thränhardt. Aber das jüngste Pärchen hat im Hinblick auf die großen Vorhaben bei der Weltmeisterschaft in Stuttgart den „Teamgeist“ als neue Tugend entdeckt. Unisono erklärten beide, sie wollten fortan ihre Auseinandersetzung nur noch auf der Matte, respektive über der Latte, austragen. Man habe sich zusammengerauft. Ralf Sonn: „Busenfreunde müssen wir trotzdem nicht werden.“

Im Wedau-Stadion war Dietmar Mögenburg erst gar nicht dabei. Eine Knieverletzung zwang ihn zur Bodenhaftung. Becker-Intimus Thränhardt hatte zwar wie immer das Publikum rhythmisch klatschend hinter sich, doch scheiterte der 36jährige Gelegenheits- Filmer nach übersprungenen 2,25 Metern an 2,29. Damit war's nichts mit der WM-Norm, die bei 2,28 liegt. Beyer/Sonn waren sich – dem neuen Harmoniekurs gemäß? – einig: „Schade!“ Beide hatten den Abschied nehmenden Oldie insofern unterstützt, als sie die Latte von 2,25 gleich auf 2,29 legten. Damit war's der schönen Gesten aber genug. Hernach verkündete Medizinstudent Ralf Sonn, der Olympia-Sechste, das Ende der Ära Thränhardt/Mögenburg: „Es gibt keine Nachfolge anzutreten, jetzt sind wir es, die ganz oben stehen!“

So richtig hoch hinaus wollen beide aber erst noch. Mit 21 und 26 hat man noch hochfliegende Träume. Um 2,40 kreisen diese bei Hendrik Beyer, der sich immerhin binnen zweier Jahre um 13 Zentimeter gesteigert hat, „irgendwann einmal, 2,40.“ Heike Henkels Geheimnis ihrer Höhenflüge liegt unter anderem im Training, das entgegen aller landläufigen Annahmen weitgehend aus Kraftarbeit, Hanteln wuchten, Gewichte stemmen besteht. Hendrik Beyer und Ralf Sonn scheinen es der 18maligen Deutschen Meisterin gleichzutun. Doch wird Muskelaufbau bei Männern schnell zum Gewichtsproblem. Wer 82 oder 85 Kilo mit auf den Flug über die Latte nehmen muß, strapaziert seine Gelenke über Gebühr. Ralf Sonn: „Während andere wie Federn fliegen, müssen wir viel Kraft aufwenden.“ Der Olympia-Dritte Hollis Conway etwa wiegt zarte 68 Kilo.

Auch in anderen Disziplinen zeigte die deutsche Leichtathletik in Duisburg junge Gesichter. Der lange verwaiste Sprint wird belebt. Von Melanie Paschke (Braunschweig) beispielsweise, die sich mit ihren 11,24 Sekunden selbst überraschte. Nur 14 Frauen waren in diesem Jahr schneller als die 23jährige, die 11,00 als magische Grenze für einen Lauf ohne chemischen Rückenwind ansieht. Männliches Pendant ist Marc Blume, der Jüngere und Schnellere der Blume-Zwilling. Als Schüler B hatte er bereits vom „Getue“ Leistungssport die Nase voll. Jetzt lief er 10,30 und fährt zur WM nach Stuttgart. Ebenso wie 85 weitere Athletinnen und Athleten, die der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) gestern vorerst nominierte.