■ Jetzt müssen politische Gefangene entlassen werden
: Der eigentliche Skandal

Am 4. Mai 1979 wurde Elisabeth von Dyck in Nürnberg erschossen, als sie eine illegale Wohnung der RAF betrat. Die in einem Bauwagen vor dem Haus versteckten Polizisten signalisierten den in der Wohnung wartenden Kollegen ihr Kommen über Funk. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft wies die Strafanzeige der Eltern der Toten zurück: „Den Anzeigen gegen die Polizeibeamten wegen des Todes von Frau von Dyck am 4.5.1979 wird nicht stattgegeben, da die Beamten in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt haben.“ Elisabeth von Dyck starb durch einen Schuß in den Rücken.

Acht Wochen später betrat Rolf Heissler eine konspirative Wohnung der RAF in Frankfurt. Nur weil er instinktiv einen Packen mit den Samstagsausgaben mehrerer Tageszeitungen vor das Gesicht riß, drang die auf ihn abgefeuerte Kugel nicht in sein Gehirn, sondern blieb in der Stirn stecken.

Zwei Jahre nach dem Deutschen Herbst bewegte das die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht annähernd so sehr wie heute die Todesumstände von Wolfgang Grams. Um so mehr die RAF- Sympathisanten, darunter Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, der mich damals im Gefängnis besucht hatte. Seither gehört das Wort „Kill-Fahndung“ zu unserem Wortschatz.

Wie die Isolationshaft, der die Gefangenen aus der RAF unterlagen, so radikalisierten diese „Fahndungsmethoden“ und die dazu schweigende veröffentlichte Meinung einen Teil der engagierten RAF-Sympathisanten, bis sie es schließlich selbst wurden: RAF.

Die RAF war zur realen Gefahr für den Staat und diese Demokratei aufgeblasen worden. Die Fahndungshysterie hatte die ganze Gesellschaft erfaßt. Diese Zeiten sind längst vorbei.

Es gab Sympathien für die RAF-Mitglieder da, wo sie Opfer waren, in der Haft und bei diesen tödlichen Fahndungen. Da wo sie Täter waren, blieben die RAF- Leute und ihre paar Sympathisanten unter sich in der Sackgasse, in die sie ihre Morde geführt hatten, sie, die aufgebrochen waren, um zur Emanzipation der Menschheit beizutragen.

Die Journalistinnen und Journalisten, die heute keine Nachrichtensperre abhält, die Todesumstände von Wolfgang Grams aufzuklären, sind sicher aus mehreren Gründen nicht mehr bereit, sich wie vor fünfzehn Jahren einen Maulkorb umhängen zu lassen. Nicht nur weil niemand mehr Angst haben muß, als RAF-Sympathisant an den Pranger gestellt zu werden. Eine Rolle spielen auch eine Reihe weiterer Fakten:

– Die Bonner Selbstbediener haben zu laut über die Beschränkung der Pressefreiheit nachgedacht.

– Die Gefahr für unsere Demomokratie kommt eindeutig von rechts und nur von rechts.

– Und das Entscheidende: Die RAF hat nach Kinkels „Versöhnungsangebot“ das Ende des bewaffneten Kampfs angeboten, und alle Gefangenen aus der RAF haben das bekräftigt.

Darauf wurde nicht reagiert. Obwohl prominente Verfassungsschützer noch und noch erklärten, daß es von seiten des Staates Fehler gab, die zur Eskalation der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF beigetragen haben, hat das bis heute kein Politiker öffentlich aufgenommen und auch nur eine Andeutung von Selbstkritik verlauten lassen. Im Gegenteil, selbst aus den Reihen der Grünen hören wir heute, die rechten Jugendlichen müßten „wie die RAF“ bekämpft werden.

Während die Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder erklärte, daß sie Kinkels „Versöhnungsinitiative“ fortzuführen entschlossen ist, eröffnete die ihrer Weisungsbefugnis unterliegende Generalbundesanwaltschaft gegen viele der längst zu Höchststrafen verurteilten Gefangenen neue Prozesse. Mit der Festschreibung der „besonders schweren Schuld“ auf der Grundlage von Kronzeugenaussagen sollten Entlassungen nach fünfzehn Jahren Haft verhindert werden. Die RAF reagierte mit der Sprengung des Gefängnisses von Weiterstadt. Bei aller technischen Perfektion eine hilflose Aktion, weil sie voraussehbar diejenigen in ihrer Haltung bestärken mußte, die mit einer Verständigung mit der RAF und einer friedlichen Konfliktregelung nie was im Sinn hatten.

Nun sind schon wieder zwei Menschen in dieser Auseinandersetzung gestorben. Das ist der eigentliche Skandal, nicht der Ablauf und die Umstände dieser Polizeiaktion in Bad Kleinen.

Und skandalös ist, daß Innenminister Seiters und Generalbundesanwalt von Stahl wegen einer „fahndungstechnischen Panne“ aus ihren Ämtern schieden und nicht wegen Mölln und Solingen. Diese Ignoranz in Bonn läßt befürchten, daß dort gefeiert worden wäre, wenn ein Präzisionsschütze Wolfgang Grams aus hundert Meter Entfernung abgeknallt hätte. Das wäre dann ein „finaler Rettungsschuß“ gewesen. Eingepaßt in den wachsenden Ruf nach Härte gegen StraftäterInnen insgesamt. Auch das verbindet untergründig das offizielle Bonn mit der rechtsextremistischen Szene. Als könnten die wachsenden sozialen Probleme ausgerechnet in Deutschland mit Härte gelöst werden.

Die RAF entstand aus der militanten politischen Auseinandersetzung eines Teils der außerparlamentarischen Opposition mit diesem Staat. Und so wie soziale Probleme nur sozial gelöst werden können, wenn man die Menschenrechte ernst nimmt, so kann dieser politische Konflikt mit der RAF nur politisch gelöst werden. In allen Ländern, in denen aus der Protestbewegung gegen den Vietnam- Krieg bewaffnete Gruppen entstanden, ist dies längst geschehen.

Wenn das in Deutschland noch möglich ist, dann muß noch in diesem Jahr mit vielen Entlassungen von Gefangenen reagiert werden. Irmgard Möller zum Beispiel sitzt seit 22 Jahren im Gefängnis. Keine Frau in den bundesdeutschen Gefängnissen ist länger inhaftiert.

Schnelle Reaktionen des Staates sind nicht nur gefragt, damit die RAF weiß, daß es noch ein Interesse dieser Regierung an einem gewaltlosen Ende des Konflikts gibt. Schnell muß diese Reaktion auch deshalb kommen, weil ein Wahljahr bevorsteht, in dem das Thema „wachsende Kriminalität“, verbunden mit Forderungen nach mehr Kompetenzen für Polizei und Nachrichtendienste, bestimmend sein wird. Dafür steht Kanther.

In der Erklärung, mit der die RAF das Ende ihres bewaffneten Kampfes anbot, waren bedrohliche Töne, aber sie haben auch anderes gesagt: daß sie nicht mehr zur weiteren Brutalisierung der Gesellschaft beitragen wollen.

Wenn diese Regierung das nicht aufzugreifen in der Lage ist, wie will sie dann zu einem Ende der Angriffe gegen Flüchtlinge und Migranten beitragen? Auch das geht nur sozial und politisch. Auch hier müssen die eigenen Anteile an dieser Eskalation der Gewalt gegen Flüchtlinge und EinwanderInnen erkannt werden. Klaus Jünschke

Ehemaliges RAF-Mitglied, inhaftiert von 1972 bis 1988, lebt heute als Sozialwissenschaftler in Köln