Agathe im WordCruncher

Robert Musils Nachlaß, darunter viele Entwürfe für den „Mann ohne Eigenschaften“, jetzt auf CD-ROM  ■ Von Ina Hartwig

Schriftsteller, die ihre Romane nicht fertigbekommen, gibt es nicht mehr. Unter den Giganten der erzählenden klassischen Moderne war diese spezielle Art von writer's block allerdings noch recht verbreitet. Robert Musil traf zudem noch das Schicksal, zu Lebzeiten den Ruhm nicht erleben zu dürfen, den sein größtes Werk erntete: „Der Mann ohne Eigenschaften“ wurde das berühmteste Romanfragment des Jahrhunderts.

Wer immer schon wissen wollte, warum der militärisch und mathematisch ausgebildete Romancier es nicht schaffte, sich für ein definitives Ende seines Lebensromans zu entscheiden, obwohl er ganze 23 Jahre lang damit zugebracht hat (zum Vergleich: Proust schrieb an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nur 14 Jahre), kann sich freuen. Die Basis zur Lösung des Problems ist gelegt. Aber Vorsicht! Es geht um eine neue Technik. Und um eine ganze Menge Geld. Womit einige Schwierigkeiten schon angedeutet wären.

Genau 50 Jahre nach Musils Tod erscheint im Rowohlt Verlag sein literarischer Nachlaß: 11.686 Manuskriptseiten, gespeichert auf dem Datenträger CD-ROM, den rein äußerlich nichts von einer gewöhnlichen Compact Disc unterscheidet, versehen mit einem Computer-Erschließungsprogramm; Preis: 1.400 Mark. Das ist nicht nur ein editorisches, philologisches und finanzielles Groß-, es ist auch ein Pionierereignis. Denn zum ersten Mal ist hiermit der Nachlaß eines deutschsprachigen Schriftstellers elektronisch erfaßt.

Als Robert Musil 1938 vor den Nazis floh und nach Genf ins Exil ging, stellte er sich ein Arbeitsmaterial und -instrument aus Notizen und Entwürfen zusammen, das er mitnahm: nicht Archiv für Erledigtes, sondern Gedankenwerkstatt. Darunter befanden sich auch Entwürfe aus den zwanziger Jahren, auf die Musil immer wieder zurückgriff, ohne sich jedoch dazu durchringen zu können, sie zu publizieren: etwa die „Reise“-Kapitel, in denen es zum ekstatischen Vollzug des Inzests zwischen Agathe und Ulrich kommt.

Aus den sehr produktiven vier letzten Lebensjahren Musils stammen die Entwürfe zu dem vielleicht berühmtesten Kapitel des Romans, „Atemzüge eines Sommertags“, in dem die Geschwistererotik Agathes und Ulrichs gewissermaßen „eingefroren“ wird im „Gespräch“ – einem Schwebezustand zwischen Vollzug und Vermeidung, den Musil, wie es scheint, zum Liebesideal erheben wollte.

1949, nach dem Tod seiner Ehefrau Martha, ging Musils Nachlaß in die Hände seines (nur 12 Jahre jüngeren) Stiefsohnes Gaetano Marcovaldi über, bis die Manuskripte schlußendlich 1972 in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien deponiert wurden, wo sie heute noch liegen. Zwei Drittel des literarischen Nachlasses sind Entwürfe zum „Mann ohne Eigenschaften“.

Nicht der gesamte Nachlaß ist erhalten geblieben. Diejenigen Teile, die Musil bei einer Wiener Spedition untergestellt hatte, sind bei einem Bombenangriff verbrannt. Wenn heute also von Musils literarischem Nachlaß die Rede ist, dann sind die für das Schweizer Exil zusammengestellten Teile, abzüglich einiger späterer Verluste, gemeint.

Die Herausgeber Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé sind sich darin einig, daß Musils Nachlaß, vom Autor selbst mit diversen Siglen und Querverweisen versehen, ausgesprochen geeignet ist für die elekronische Erfassung. Auf diese Weise kann man mit diesem Nachlaß umgehen, wie Musil es offensichtlich selbst getan hat oder zu tun vorhatte: nur schneller.

Nicht, daß Musils Nachlaß bisher unbekannt war. Adolf Frisé hatte bereits 1952 (und, in ergänzter Form, 1976) eine über 1000-seitige Auswahl aus dem Nachlaß des „Mann ohne Eigenschaften“ präsentiert. Anders jedoch als Frisés Ausgabe, die der Rekonstruktion des Romans galt, und daher subjektiv sein mußte, stellt die elektronische Nachlaß-Ausgabe eine vollständige (objektive) Reproduktion dar: Jede Streichung, Unterführung, Randnotiz, Umrahmung und Einfügung Musils ist seitenidentisch mit Hilfe von Transkriptionszeichen – die der Benutzer lernen muß – festgehalten.

Ist Frisés einstige Auswahl aus dem Nachlaß jetzt hinfällig geworden? Definitiv: Nein. Man könnte die neue Nachlaß-Ausgabe als elektronische Version eines riesigen Faksimiles bezeichnen, gäbe es nicht den einen entscheidenden Unterschied: den zwischen Bildschirm und Buch. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: CD- ROM ersetzt nicht das Buch, sondern löscht es aus. Das heißt aber nicht, daß es bald keine Bücher mehr geben wird. Begeisterten und ängstlichen Medienapokalyptikern zum Trotz ist die neue Technik schlicht etwas anderes als ein Buch. Die Herausgeber von Musils Nachlaß gehen natürlich davon aus, daß sie Optimierung und Ergänzung ist.

Finanziert wurde das gigantische Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie dem Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung; der Rowohlt Verlag hat die Herstellungskosten für die CD-ROM übernommen. Man stelle sich die Ausdauer einmal vor, derer es bedarf, um mehr als 10.000 (fotokopierte) Manuskriptseiten in den Computer nicht nur einzutippen, sondern auch noch mit Transkriptionsschlüsseln und (abrufbaren) Kommentaren über Datierung, Heft-, Papier- und Schreibstiftbeschaffenheit zu versehen. Es handelt sich eindeutig um ein Zeichen von sozialem Wohlstand, wenn zwei Länder es sich leisten, fünf Jahre lang jeweils zwei ganze Uni-Stellen und mehrere Werkverträge für ein derart exklusives Unternehmen zu zahlen.

Zwei getrennt voneinander arbeitende Forschergruppen haben die elekronische Erfassung von Musils Nachlaß besorgt: die eine in Klagenfurt unter Leitung von Friedbert Aspetsberger, die andere in Trier unter Leitung von Karl Eibl. Man hatte sich vorher auf gemeinsame Transkriptionsschlüssel geeinigt und die Nachlaßteile aufgeteilt.

Hinter dieser auf den ersten Blick schlicht ökonomisch aussehenden Arbeitsteilung verbergen sich jedoch zwei unterschiedliche Schulen. Zum Ausdruck kommen sie in den unterschiedlichen Computerprogrammen, mit denen die Klagenfurter und Trierer Forscher sich die Hinterlassenschaft Musils zugänglich gemacht haben. Das „Philologische Erschließungsprogramm“ (PEP), das die Klagenfurter mit Hilfe von Informatikern entwickelt haben, ist vor allem eine Archivverwaltung. Es wird von Rowohlt zur CD-ROM mitgeliefert.

Dagegen muß das von Eibl und seiner Assistentin Marianne Willems für den Musilschen Nachlaß ausgebaute Programm „WordCruncher“ – ironischerweise wurde es ursprünglich im US-Bundesstaat Utah für die Mormonenbibel entwickelt – für 200 Mark bei der Bonner Firma Incom zusätzlich gekauft werden. Was sich allerdings lohnt. WordCruncher ist ein sogenanntes Retrieval-, das heißt Suchprogramm. Warum sich Rowohlt ausgerechnet dafür entschieden hat, PEP mitzuliefern und nicht WordCruncher (oder beide zusammen), ist nicht recht einzusehen.

Zwar hat PEP gegenüber WordCruncher ein paar (wenige) Vorteile: Es spuckt mehr die Archivierung betreffende Information aus, verfügt außerdem über ein bearbeitetes Register, das es ermöglicht, auch Sammelbegriffe zu suchen, im Gegensatz zur reinen Wort-Suchliste von WordCruncher. Beim Suchen aber, immerhin eine der wichtigsten Funktionen elektronisch erfaßter Texte überhaupt, ist WordCruncher eindeutig einfacher zu handhaben, schneller und raffinierter.

Die Geschwindigkeit, mit der WordCruncher sucht und findet, ist so atemberaubend, daß man das Verhältnis zur Textmasse sofort verliert: Sie wird sozusagen immateriell. Innerhalb einer Sekunde springt das Programm von einer Textstelle zur anderen; wieviel tausend Seiten dazwischen liegen, bleibt unfaßlich. Suche ich beispielsweise das Wort „Verführung“, so gibt das Programm mir auf der Stelle bekannt, daß es an 99 Stellen im Nachlaß vorkommt. Mit einem weiteren Tastendruck kann ich mir die Fundstellen anzeigen lassen, wobei der Bildschirm scheibchenweise in querformatige Fenster aufgeteilt ist, das gesuchte Wort ist farbig markiert. Es steht mir dann frei, zwischen den Fundstellen hin- und herzuspringen, die Fenstergröße zu ändern, oder direkt in den „Volltext“ zu gehen, um die Stelle näher zu studieren: Dann erst beginnt, was man gemeinhin Lesen nennt.

Kombiniertes Suchen ist ebenfalls möglich. Wenn ich etwa „Verführung“ in Verbindung mit „Agathe“ (sie allein hat 1.679 Fundstellen) suche, und zwar innerhalb von – sagen wir – 1.000 Zeichen, dann spuckt das Programm 6 Fundstellen aus, die in der erwähnten Weise anzuschauen sind. Es besteht auch die Möglichkeit, eigene Dateien anzulegen und ausdrucken zu lassen sowie markierte Textteile oder Suchlisten zu speichern – abzüglich natürlich der Retrieval-Funktionen.

Für wen sind derartige Computerspiele relevant? Wen interessiert diese Sucherei in unfertigen Texten? Die Zielgruppe ist klar definiert, und sie ist klein: Liebhaber und Forscher. Und unter den Forschern eigentlich auch nur diejenigen, die sich mit entstehungsgeschichtlichen Fragen beschäftigen, was im Fall Musil allerdings wirklich ergiebig ist. Denn die ganze „Liebesgeschichte“ zwischen Agathe und Ulrich verlangt geradezu nach einer werkgenetischen Untersuchung. Nur auf diese Weise könnte geklärt werden, warum Musil über Jahre den schon entworfenen Inzest niemals publizieren wollte, ja warum er so lange auf der Stelle trat. Ist es das Problem des „Danach“, oder die Scham vor dem Tabu, die es Musil unmöglich machten, seinen Roman abzuschließen? Fragen, die nun vielleicht beantwortet werden können.

Karl Eibl schätzt, daß von den 200 Exemplaren der ersten Auflage des Musilschen Nachlasses gegenwärtig circa 50 Stück verkauft sind. Das ist wenig, bedenkt man, daß eigentlich keine Musil-Dissertation um diesen Nachlaß mehr herumkommt. Aber die Infrastruktur der deutschen Bibliotheken, auch der Uni-Bibliotheken, ist auf die neue Technik noch nicht eingestellt. Da gibt es zum einen Probleme mit der Sicherheit: Eine CD-ROM verirrt sich leicht mal in die Jackettasche (wie neulich in einer Bibliothek geschehen). Zum anderen müßten Computerpools und Bibliotheken kooperieren, um die Arbeit mit elektronisch gespeicherten Texten zu ermöglichen. Ein Bibliothekar allein kann die Installation des Programms gar nicht bewerkställigen, selbst wenn ausreichend CD-ROM-Lesegeräte und Computer vorhanden wären – was bei dem augenblicklichen finanziellen Abbau in den Bibliotheken vor allem der Geisteswissenschaften ohnehin nicht der Fall ist. Im übrigen scheint der Widerstand der älteren Professorengeneration gegenüber der neuen Technik erheblich zu sein, wie Bibliothekare versichern.

Eine ganz andere Frage: Ist die elektronische Nachlaßverwaltung eine neue Technik für ein aussterbendes Genre? Wird es literarische Nachlässe in Zukunft überhaupt noch geben? Die meisten Schriftsteller dürften inzwischen auf Computer schreiben, der ja die allseits beliebte Eigenschaft hat, Überarbeitungen zum Verschwinden zu bringen. Es sei denn, die Entwürfe werden eigens gespeichert. So hat es Horst Bienek gemacht. Er hinterließ, als er starb, eine Computer-Festplatte als Nachlaß. Altes Genre findet neue Technik: Der Traum, ein Autor zu sein, stirbt nicht aus.

Geht man von dem – historisch gesehen eher selten gegebenen – Ideal einer Forschungsgemeinschaft aus, der der jeweils bestmögliche Zugriff auf Quellen zur Verfügung steht, dann muß man die elektronische Herausgabe von Schriftsteller-Nachlässen selbstverständlich begrüßen. Aber die technische Optimierung ist keine Garantie dafür, daß auch eine optimale Forschungsliteratur dabei herauskommt. Eines der schönsten, epochemachenden Werke der deutschen Literaturkritik, Erich Auerbachs „Mimesis“, entstand im türkischen Exil: ohne Bibliothek.

Robert Musil: „Der literarische Nachlaß“. Herausgegeben von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé, Rowohlt Verlag 1992, CD-ROM, 1.400 Mark, incl. WordCruncher 1.600 Mark