: Mit Ruhe und Grandezza
Der Baske Miguel Induráin schockierte auf der ersten Alpen-Etappe der 80. Tour de France die Konkurrenz mit einer unverhofften Attacke ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – „Induráin schlug die Italiener k.o.“, klagte der Corriere della Sera voller Entsetzen nach der ersten Alpen-Etappe der 80. Tour de France. Gianni Bugno und Claudio Chiappucci waren in den letzten beiden Jahren stets die hartnäckigsten Herausforderer des Spaniers bei der Frankreich- Rundfahrt gewesen. Diesmal jedoch spielte ihnen der zweifache Tour-Sieger in übler Weise mit.
„Wenn ich anfange zu arbeiten, höre ich nicht mehr auf“, hatte der emsige Bergteufel Chiappucci selbstbewußt angekündigt und jede Menge Angriffe in Alpen und Pyrenäen versprochen. Induráin sei nervös, glaubte er erkannt zu haben und war zuversichtlich, den zähen Burschen im Gelben Trikot gemeinsam mit Bugno, Rominger, Breukink, Zülle, Mejía und anderen starken Bergfahrern zermürben zu können.
Der 28jährige Mann aus Navarra hörte all das mit großer Gelassenheit. Die Ruhe hatte Miguel Induráin schon immer weg, nach seinen Erfolgen bei Tour und Giro d'Italia, die er je zweimal gewann, besitzt er inzwischen jedoch auch jene Grandezza, die die großen Radfahrer auszeichnet. Hatte er in den Jahren zuvor seine Siege im Zeitfahren herausgefahren und sich in den Bergen vorsichtig und defensiv an die Hinterräder seiner Konkurrenten geheftet, drehte er diesmal voller Selbstbewußtsein den Spieß um. Anstatt zu warten, bis er selbst attackiert wurde, griff er auf der 10. Etappe, die über den Glandon (1.924 m), den Col de Télégraphe (1.566 m) und den berüchtigten Galibier (2.645 m) im Stile eines Champions höchstpersönlich an.
Induráins Angriff am Col de Télégraphe
Am Télégraphe verschärfte er das Tempo und einer nach dem anderen blieb zurück. Als es den Galibier hinaufging, waren nur noch der Kolumbianer Alváro Mejía und der Schweizer Tony Rominger übrig. Rominger, mit großen Ambitionen in die Tour gestartet, versuchte einige Male davonzufahren, erkannte aber die Vergeblichkeit seines Strebens und arrangierte sich mit Induráin. Eine kurze Absprache, ob ihm der Spanier wohl den Etappensieg überlassen würde, der erklärte, daß dies von seiner Seite voll in Ordnung gehe, und fortan arbeiteten die beiden in äußerster Harmonie zusammen. „Er ist unglaublich und so stark“, staunte Rominger, „um ihn zu schlagen, mußt du in der Lage sein anzugreifen, wegzufahren, und dann nochmal zu beschleunigen, damit er dich nicht einholen kann. Das ist sehr schwierig.“
Die Kooperation der Führenden, die mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37 Stundenkilometern einen Bergrekord aufstellten, brachte den Rest des Feldes in erhebliche Schwierigkeiten. Hinten kämpften die schwächeren Fahrer darum, nicht wegen Überschreitung des Zeitlimits disqualifiziert zu werden, und auch weiter vorn wurden die Abstände zur Spitze immer größer. Im Ziel hatte Eric Breukink dreieinhalb Minuten Rückstand, Alex Zülle fast sieben, Gianni Bugno beinahe acht und Claudio Chiappucci gar 8:49.
Differenzen, die an graue Vorzeiten der Tour gemahnen, etwa an Eugène Christophe, der 1912 am Galibier zwölf Minuten Vorsprung herausfuhr, oder an die Solonummer des Luxemburgers Charly Gaul, der 1955 eine Viertelstunde vor seinen Konkurrenten ankam. Mit seiner imposanten Fahrt stellte sich Induráin, der, wie versprochen, Rominger die Etappe gewinnen ließ, in die Reihe großer Vorgänger wie Fausto Coppi, Jacques Anquetil, Eddy Merckx und Bernard Hinault, die alle am Galibier brilliert hatten. Den Rivalen blieb bloß die Hoffnung, daß auch Induráin trotz seiner Maske der Unerschütterlichkeit nur ein einfacher Radfahrer ist, der sich übernehmen und Schwächeperioden zum Opfer fallen kann.
Untröstlich waren im Zielort Serre Chevalier vor allem die Italiener. Der sonst so redselige Chiappucci zog sich sofort zurück und sein einziger Kommentar lautete: „Ich werde nichts sagen. Und außerdem, was sollte ich sagen?“ Chiappucci sei eingebrochen, weil er keine Moral gehabt habe, meinte der völlig deprimierte Gianni Bugno. „Aber er hatte wenigstens einen guten Giro. Ich nicht mal das.“ Während des ganzen Tages habe er sich gefragt, ob er seine Karriere nicht beenden sollte. „Ich werde die Tour wohl zu Ende fahren, aber dieser Tag war eine Krise für mich.“ Selbst das Trikot des Weltmeisters wurde für Bugno auf der fatalen 10. Etappe zum Ballast: „Bei der Figur, die ich damit auf der Strecke abgebe, wäre es besser, wenn ich es nicht hätte.“
Gesamtklassement: 1. Induráin 40:58:17 Stunden, 2. Mejía 3:08 Minuten zurück, 3. Jaskula 4:16, 4. Breukink 5:07, 5. Rominger 5:44, 6. Hampsten 8:06, 7. Charles Mottet (Frankreich) 9:44, 8. Bjarne Rijs (Dänemark) 9:55, 9. Bugno 10:14, 10. Zülle 11:09
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