Fasten läutert – Hungerstreik mobilisiert

■ Theorie und Praxis eines ebenso alten wie wirkungsvollen Kampfmittels

Den Anfang machte der Geschäftsführer einer Magdeburger Schuhfabrik in Treuhandbesitz, dann trat ein Teil der Belegschaft des Berliner Gerätebatteriewerks Belfa fünf Tage in Hungerstreik. Seit zwei Wochen fasten nun 42 Kali-Kumpel in Bischofferode, und mindestens vier weitere Betriebsrats-Kollektive haben diese Form des Kampfes gegen die Treuhand bereits „angedacht“. Kurz vor der endgültigen Liquidation ihrer Werke scheint sich der Hungerstreik in Ostdeutschland zur Ultima ratio des Widerstands zu entwickeln. Zwar hört man immer öfter den Spruch: „Langsam kann ich die RAF verstehen“, aber das kollektive Fasten scheint doch eher vorläufiger Höhepunkt dessen zu sein, was 1989 mit „keine Gewalt“ begann.

„Es gibt dabei verschiedene Traditionslinien“, sagt Theodor Ebert, Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. „Wir reden von Hungerstreik und von Fasten. Das Fasten hat eine sehr lange religiöse Tradition und zielt darauf, das Individuum zu läutern und in eine Beziehung zu seinem Schöpfer zu setzen. Der Hungerstreik versucht hingegen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, auf ein bestimmtes Problem aufmerksam zu machen.“

Ebert, dessen Forschungsschwerpunkt „Soziale Bewegungen und gewaltfreie Konfliktaustragungen“ ist, weist darauf hin, daß das Kampfmittel Hungerstreik auch auch von Menschen angewandt wird, die Gewalt nicht prinzipiell ablehnen, aber in bestimmten Situationen über keine Gewaltmittel mehr verfügen. Als Beispiel für diese Variante nennt er den Hungerstreik politischer Gefangener beispielsweise in Nordirland, aber auch die englischen Suffragetten in ihrem Kampf um das Wahlrecht.

„Wenn man die Fastenaktion oder das Hungern im Rahmen einer gewaltfreien Kampagne betreibt“, sagt der Politologe, der auch Mitglied der Synode und der Kirchenleitung der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ist, „dann hat das eigentlich beide Aspekte: Einerseits versucht das hungernde Individuum, sich neue Kraft zu verschaffen für die Auseinandersetzung und es versucht, zugleich Druck auszuüben. Einer der Erfahrendsten auf dem Gebiet der gewaltfreien Aktion, der das Hungern als politisches Instrument einsetzte, war Gandhi.“

Für Mahatma Gandhi hatte das Fasten immer diesen Doppelaspekt. Er betrachte es als Gebet, aber wußte auch sehr gut um seine politische Wirkung. Dennoch glaubt Theodor Ebert, der sich nebenbei noch als Schriftleiter der Zeitschrift Gewaltfreie Aktion betätigt, „daß Menschen, die als einzelne oder in der Gruppe hungern, dabei die Erfahrung machen, daß das auch eine starke Wirkung auf sie selbst ausübt“. Und dann kämen, für manche Agnostiker und Atheisten überraschend, die religiösen Traditionen doch wieder hoch. Vor allen Dingen beuge diese Wirkung der Verzweiflung vor, die Hungernde erfassen kann, wenn sie nicht zum Ziel kommen.

Für Gandhi konnte deshalb eine Fastenaktion nie scheitern. Für ihn war sie religiöse Praxis. Er fastete auch immer wieder, um Zeit zu gewinnen und über einen politischen Konflikt nachzudenken. Er hat es sogar angewandt, um sich von Fehlern zu läutern. Wenn er bei der Konzipierung der Strategie einer politischen Kampagne Fehler gemacht hatte, was mehrfach geschah, und dies für andere gar tödliche Folgen hatte, betrieb er anschließend eine Art Bußfasten. Dieses beruhigte wiederum die politische Atmosphäre, so daß er anschließend anders weitermachen konnte.

Mittlerweile, gibt Ebert zu bedenken, sei die Aufnahmebereitschaft für das Fasten durch die Hungerstreik-Aktionen von politischen Gefangenen gestört worden, die es als reines Druckmittel ohne einen Anflug von Selbstkritik und Versöhnungsbereitschaft anwenden.

Theodor Ebert erwähnt in seinem Buch „Gewaltfreier Aufstand: Alternative zum Bürgerkrieg“ neben Gandhi, der auch einmal zur Unterstützung eines Lohnstreiks von Textilarbeitern fastete, noch den Sozialhelfer Danilo Dolci, der Anfang der fünfziger Jahre in Sizilien nach dem Hungertod eines Mädchens spontan einen unbefristeteten Hungerstreik begann, mit dem er Geld von der Regierung forderte, um den Ärmsten Arbeit zu geben. Mit Erfolg. Helmut Höge