: Der Unglücksrabe
Tony Rominger gewann beide Alpenetappen der Tour de France und hadert mit seinem Schicksal ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) — „Miguel ist nicht der Papst und nicht der König von Spanien“, sagt Banesto-Teamchef José Miguel Echávarri, „der einzige Unterschied ist, daß er professioneller ist als jeder andere.“ Als fast jeder andere, hätte Echávarri sagen sollen, denn einen gibt es, der den Radsport mindestens ebenso professionell betreibt wie Miguel Induráin: Tony Rominger. Mit ungeheurer Akribie, wie sich das für einen echten Schweizer gehört, bereitet er sich auf genau die Rennen vor, die er gewinnen will. Nichts überläßt er dem Zufall, alles, vom Pulsschlag über die Blutwerte bis zur Taktik, wird mit buchhalterischer Genauigkeit notiert, geplant und umgesetzt. Dazu kommen eine unbändige Zähigkeit, ein unbeugsamer Wille und ideale körperliche Voraussetzungen sowohl für das Zeitfahren als auch für die Berge. Der ideale Herausforderer für Miguel Induráin also — wenn alles glattgeht.
Das Rennen, das Rominger in diesem Jahr, neben der Spanien- Rundfahrt, gewinnen wollte, ist just Induráins Domäne, die Tour de France. Eine Rundfahrt, die der 32jährige bisher stets verpaßt hatte, weil er die Kälte und den Regen mehr liebt als die Hitze und weil er wegen seines Heuschnupfens im Sommer meist kaum atmen, geschweige denn radfahren konnte. Die lästige Allergie ist inzwischen kuriert, und in diesem Jahr wollte es der Schweizer wissen. Während die anderen beim Giro schwitzten, bereitete er sich vier Wochen lang allein im Höhentrainingslager in Colorado vor, um dort natürliches Blutdoping zu betreiben. Dann fuhr er sich bei der Tour de Suisse gemütlich warm und reiste topfit zur Tour an.
Doch um die schwerste Radrundfahrt der Welt zu gewinnen, braucht man nicht nur eine hervorragende Physis, eine exzellente Moral und eine gute Mannschaft — man braucht auch Glück. Und das hatte Rominger verlassen, kaum daß er die erste Pedalumdrehung dieser Tour absolviert hatte. „Der Mann mit dem meisten Pech dieser Tour“, gibt Echávarri unumwunden zu, ohne allzu unglücklich über diese Entwicklung zu sein. Die beiden Alpenetappen zeigten nämlich, daß Rominger wohl der einzige gewesen wäre, der Banestos Goldstück Induráin hätte ernsthaft gefährden können, selbst wenn es vielleicht nicht ganz zum Sieg gereicht hätte. Doch als der Schweizer in Isola 2000 zum zweiten Mal knapp vor dem spanischen Michael Jordan des Drahtesels über den Zielstrich fuhr und das seltene Kunststück fertiggebracht hatte, zwei Bergetappen in Folge zu gewinnen, war der Zug für ihn längst abgefahren.
Das Unheil hatte damit begonnen, daß ausgerechnet seine Teamkameraden Abraham Olano und Arsenio González, die er extra für das Mannschaftszeitfahren der 4. Etappe mitgebracht hatte, bereits vor dieser Prüfung sturzbedingt ausscheiden mußten. Während des Zeitfahrens verlor das Clas-Team auch noch alsbald Echave wegen eines Defektes und Gaston wegen eines Schwächeanfalls. Ergebnis des Debakels: anstelle des angestrebten Vorsprungs fast zwei Minuten Rückstand auf Induráins nicht gerade überragendes Banesto-Team. Und damit nicht genug. Einen Tag später bekam Rominger eine weitere Minute abgezogen, weil Unzaga den Schweizer Müller geschoben hatte. Obwohl ähnliches auch bei den Mannschaften von Gianni Bugno und Mario Cipollini beobachtet wurde, bekam nur Clas eine Strafe. „Schlimmer kann es nicht kommen“, sagte Teamchef Juan Fernández. Aber er täuschte sich.
Beim Einzelzeitfahren am Lac de Madine brach just, als Rominger an den Start ging, die Hölle los, und er sah sich Bedingungen ausgesetzt, die selbst für ihn zu widrig waren. „Es regnete, es hagelte, ich hatte eine Panne. Was kann mir noch passieren?“ klagte er im Ziel. Vergessen hatte er den starken Wind, der ihm entgegenwehte, und was ihm noch passieren konnte, sah er, als später Miguel Induráin auf die Strecke ging und vergleichsweise exzellente Bedingungen vorfand. Zwei Minuten, so Rominger, habe ihn das Wetter gekostet.
Mit 5:44 Minuten Rückstand auf Induráin fuhr er in die Alpen und mußte dort feststellen, daß er nicht nur gegen das Pech zu kämpfen hatte, sondern auch gegen einen mindestens gleichwertigen Kontrahenten. Was er auch tat, er konnte den Spanier nicht abschütteln, während alle anderen, die bis dahin als Mitfavoriten gegolten hatten, zurückfielen, als handle es sich um blutige Anfänger. Mit der gegenseitigen Anhänglichkeit siamesischer Zwillinge überquerten die beiden Izoard (2.360 Meter), Vars (2.109 Meter), Bonette (2.802 Meter) und stapften hinauf nach Isola 2000. Nur wenige, darunter Claudio Chiappucci, der sich von seiner Vortagsschlappe erholt hatte, konnten folgen, während Laurent Fignon aufgeben mußte und Leute wie Veteran Gilbert Duclos-Lasalle wegen Zeitüberschreitung disqualifiziert wurden. Auch die Sprinter Mario Cipollini und Wilfried Nelissen, die sich während der ersten Tage der Tour das gelbe Trikot hin- und herschoben, ereilte dieses Schicksal.
Diesmal bekam Rominger den Etappensieg nicht geschenkt, sondern mußte ihn sich gegen Induráin erspurten. „Es ist einige Tage her, daß ich die Tour verloren habe“, hatte er vor den Alpen gesagt, „jetzt vertraue ich nur noch darauf, daß ich irgendeine Bergetappe gewinne.“ Nun hat er bereits zwei und kann auf drei weitere in den Pyrenäen hoffen. Und darauf, daß sich das vermaledeite Pech endlich mal ein anderes Opfer sucht. Zum Beispiel Miguel Induráin. Wie sagte doch José Miguel Echávarri, nachdem Alex Zülle seine Tourhoffnungen begraben mußte, weil sich sein Vorderrad im Regenumhang eines fotografierenden Zuschauers verfing und der Schweizer schwer stürzte: „Wir haben gesehen, daß man alles wegen einer Jacke verlieren kann.“
Gesamtklassement: 1. Indurain 46:39:20 Stunden, 2. Mejia 3:23 Minuten zurück, 3. Jaskula 4:31, 4. Rominger 5:44, 5. Rijs 10:26, 6. Hampsten 11:12, 7. Chiappucci 14:09, 8. Breukink 14:54, 9. Delgado 15:32, 10. Rincon 21:17, ... 12. Bugno 23:05, 15. Zülle 24:00, 24. Bölts 29:45, 49. Aldag 48:42, 54. Heppner 52:13, 100. Henn 1:13:51 Stunden, 102. Kummer 1:14:59, 112. Raab 1:16:35, 115. Ludwig 1:17:01
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen