Stolperschritte in eine neue Zukunft

Nach dem fünffachen Mord will die Stadt Solingen neue Wege beschreiten / Nichts ist so wie vorher geblieben / Viele Türken vertrauen nicht mehr auf eine Zukunft in Deutschland  ■ Aus Solingen Walter Jakobs

Die Blumen und Kränze vor dem ausgebrannten Haus der Familie Genc sind verdorrt. Braune Gebinde vor einem verkohlten Gemäuer, Zeugnisse des Mitleidens und der Trauer über den Mord an die hier verbrannten fünf türkischen Frauen und Kinder. Bisher hat man die Plakate, Transparente, den hellblauen Teddybär und all die anderen Beileidsbekundungen der ersten Stunden ruhen lassen. Doch damit soll es bald vorbei sein. Auf Wunsch der Hinterbliebenen, die an anderer Stelle in Solingen mit Hilfe der Stadt einen Neubau planen, werde das Haus wohl schon bald abgerissen, weiß ein Sprecher der Stadt. Eine Umwandlung der Brandruine in eine Gedenkstätte – einige Solinger hatten das vorgeschlagen – ist damit zur Erleichterung der Stadtväter und der Anwohner vom Tisch.

In der Innenstadt künden noch einige Plakate von der heimtückischen Tat, aber die in den Nächten darauf zerschlagenen oder verbretterten Schaufensterscheiben strahlen längst wieder in altem Glanz. Auch der durch stundenlange Feuer zerstörte Asphaltbelag an einigen Kreuzungen hat eine neue Teerdecke erhalten. Doch auch wenn die stofflichen Reste der Brandnacht verschwinden, verdrängen läßt sich die Schandtat nicht. Das weiß auch die Stadtverwaltung. In einer einstimmig vom Rat verabschiedeten Verwaltungsvorlage ist vom „tiefsten Einschnitt nach dem 2. Weltkrieg“ die Rede. Nach dem fünffachen Mord und den „darauffolgenden Krawallen“ werde es wohl Jahre dauern, „um einen Neuanfang zu realisieren“.

Darauf mag Nihat Deniz, der nur ein paar hundert Meter vom Tatort eine eigene Dreherei betreibt, nicht vertrauen. Der 38jährige Türke, der dem Ausländerbeirat der Stadt angehört, sieht für die Zukunft von Ausländern in Deutschland schwarz. „Es ist schlimm geworden in Deutschland, viel kälter als früher.“ Zwar gäben sich in Solingen jetzt viele „wirklich Mühe, aber der Ausländerhaß und der Rechtsextremismus wird nicht zurückgehen“. 30 bis 40 Prozent der Deutschen, so schätzt der seit 23 Jahren in Westdeutschland lebende Mann, seien „türkenfeindlich“ und anfällig für rechtsradikale Parolen. „Ich bin wirklich pessimistisch, denn ich erlebe bei vielen Kontakten mit Deutschen, daß wir hier unerwünscht sind.“

Bis zu dem schon einige Monate zurückliegenden Brandanschlag auf eine Moschee schien auch für Deniz die Welt noch in Ordnung: „Ich habe bis dahin nie geglaubt, daß so etwas in Solingen möglich sein würde. Seitdem ist das Vertrauen nicht mehr da.“ Jetzt spüre er wieder, „daß ich Ausländer bin“. Dabei stößt Deniz – wenn er sich nicht als Mitglied im Ausländerbeirat zu erkennen gibt – allen offiziellen Bekundungen zum Trotz auch in den Institutionen der Stadt auf massive Ablehnung. Erst vor ein paar Tagen hat ihm ein Beamter im Polizeipräsidium den Handschlag verweigert – „aus Angst vor ansteckenden Krankheiten“. Wenn nicht die Kredite wären, die er bei Gründung seines Unternehmens vor ein paar Jahren hat aufnehmen müssen, wäre er längst weg. Er kenne keinen einzigen Landsmann, „der noch optimistisch ist“. Von den Kindern ganz zu schweigen: „Die haben alle Angst.“

Nun, sieben Wochen danach beginnt diese Angst in manchen türkischen Familien vorsichtiger Zuversicht zu weichen. „Direkt nach der Tat fühlte auch ich mich miserabel“, erzählt Emine S. Ihre vierjährige Schwester habe in jenen Tagen, an denen die Bilder über Solingen fast im Halbstundentakt über die Fernsehschirme flimmerten, viel geweint und nicht in den Kindergarten gewollt. „Als ich meine Schwester weinen sah, da habe ich gedacht, wo lebst du eigentlich.“ Bis dahin fühlte sich die 19jährige Emine, die als sechsjährige zusammen mit ihrer Mutter die Türkei verließ, um zu ihrem in Solingen arbeitenden Vater zu ziehen, „glücklich“ in Deutschland. Keine Diskriminierungen, keine ausländerfeindlichen Sprüche? Hat sie nichts davon erlebt? Es gab einige „Begegnungen, aber ich habe damit zu leben gelernt“. Als sie den zweifelnden Blick bemerkt, sprudelt es aus ihr heraus: „Ich weiß auch nicht, ob ich mich selbst betrogen habe, aber wirklich schlechte Erfahrungen habe ich nie gemacht.“ Sie spricht mit Blick auf die rechtsradikalen Täter von „ein paar Zerquetschten“, die es in jedem Land gebe. Ihr Lebensgefühl beschreibt sie als „optimistisch“.

Als sie das sagt, strahlen ihre dunklen Augen, signalisiert ihr junges Gesicht, daß sie entschlossen ist, ihr Glück in Deutschland zu machen: „Ich habe mehr deutsche als türkische Freundinnen.“ Sie glaubt daran, daß die Menschlichkeit siegt, daß Ausländer wie Deutsche „offener und toleranter werden“. Diese Zuversicht wird gewiß auch von ihrer Religiösität gespeist. Seit gut zwei Jahren – inspiriert durch eine Freundschaft mit deutschen Muslime – trägt Emine S. ihr Haar bedeckt, als „Zeichen meines Glaubens“. Sie findet es richtig, sich auf diese Weise zum Koran zu bekennen, macht daraus aber kein Dogma: „Wenn es jemand nicht macht, ist es auch okay.“ Toleranz, auf diese Tugend baut die 19jährige. In einem Jahr hofft sie ihr Abitur zu schaffen. Danach will sie in Köln Religionswissenschaften, Philosophie und Elektrotechnik studieren.

Daß diese Schulkarriere für ein türkisches Mädchen eher die Ausnahme bildet, zeigt schon ein Blick in die Statistik. 14 Prozent der 166.000 Solinger haben keinen deutschen Paß. An den städtischen Gymnasien stellen die ausländischen Schülerinnen und Schüler aber gerade mal 6,3 Prozent der Gesamtschülerzahl. 44,9 Prozent macht dagegen ihr Anteil an den Hauptschulen und 34,8 Prozent an den Sonderschulen aus. Die aus proletarischen Verhältnissen stammende Emine S. hat dagegen in Solingen das erreicht, was ihr in der Türkei nach ihren eigenen Worten wohl verwehrt geblieben wäre: die Aussicht auf ein Hochschulstudium. Vielleicht erklärt sich auch daraus ihr Optimismus.

Daß der auf realistischen Fakten fußt, bezweifeln Menschen wie Nihat Deniz vehement. Junge Leute wie Emine S. schätzten die tatsächlichen Veränderungen und Gefahren falsch ein: „Die haben zu wenig Erfahrung.“

Mit seiner tiefen Verunsicherung steht Deniz nicht allein. Auf welch brüchigem Fundament die bundesdeutsche Demokratie in Wahrheit ruhe, sei ihr erst in den Tagen nach dem Brandanschlag wirklich aufgegangen, erzählt Julia Freiwald. Sicher, ausländerfeindliche Sprüche waren der 50jährigen Erzieherin auch vor der Mordbrennerei untergekommen, aber daß in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, die Opfer waren kaum beerdigt, ansonsten kreuzbrave Menschen nun davon sprachen, „daß wir erst Frieden kriegen, wenn alle Ausländer weg sind“, hat sie „schockiert“. Wochenlang „hatte ich ein Gefühl von Angst vor diesen bösen Worten, weil ich mich fragte, wo führt das hin, wenn Menschen die Brandstiftung zwar ablehnen, im nächsten Moment aber dann sagen, die müssen hier weg“.

Und das waren beileibe keine Einzelstimmen. Als Julia Freiwald jemanden davon erzählte, daß sie mit weiteren Deutschen an einer Zeremonie in einer Moschee anläßlich der Rückkehr der Familie Genc aus der Türkei teilgenommen habe, mußte sie sich dies anhören: „Jetzt sind wir schon soweit, daß Deutsche vor Türken Bücklinge machen.“ Von solchen Deutschen fühlt sich die seit Jahren in der Dritte-Welt-Bewegung aktive Frau inzwischen „selbst bedroht“. Wie nie zuvor sei ihr in den Wochen nach dem Anschlag deutlich geworden, „daß wir in einer Gesellschaft leben, die latent faschistisch ist“.

In einer von der rot-grünen Ratsmehrheit gegen die Stimmen der CDU und FDP verfaßten Resolution an die Bundes- und Landespolitiker ist davon die Rede, daß „in unseren Städten und Dörfern, in unseren Köpfen und Herzen eine Wende herbeigeführt“ werden müsse, um die Kette der Gewalt zu brechen. „Alle in unserem Land lebenden Menschen müssen spüren, daß die Politik – auf welcher Ebene auch immer – nicht zur Tagesordnung übergeht und sich mit rassistischer Gewalt abfindet.“ Es gibt in Solingen in vielen Initiativen, in Gewerkschaften, Kirchen und Parteien eine wachsende Zahl von Menschen, die mit ganzer Kraft daran arbeiten, diese Wende zu ermöglichen.

Zu ihnen gehört Vera Rottes, Diplom-Ingenieurin und Leiterin des Solinger Amtes für Stadtentwicklung. Sie sitzt einem Koordinierungskreis vor, der durch eine Vielzahl von Maßnahmen der Ausländerfeindlichkeit in Solingen „beispielhaft für viele Städte“ das Wasser abgraben will. Vera Rottes ist sich sicher, daß „es in dieser Stadt eine Prioritätenverschiebung geben wird“ – weg von dem Nebeneinander der Vergangenheit hin zu einem Miteinander der verschiedenen Ethnien.

Daß die Defizite im Kinder-, Jugend-, Wohnungs-, Ausbildungs- und Freizeitbereich jetzt ebenso in „Handlungskonzepten“ offen angesprochen werden wie der Rechtsextremismus in der Stadt, über den laut Verwaltungsvorlage „nicht sensibel genug nachgedacht und informiert worden ist“, deutet den Willen zum Neubeginn an. Unmittelbar nach dem Brandanschlag hatte der zweite Bürgermeister, Bernd Krebs (CDU), noch versucht, seiner Kommune wider besseres Wissen einen demokratischen Persilschein auszustellen: „Rechtsextreme gibt es hier nicht.“ Tatsächlich gab es vor dem Mordanschlag eine Vielzahl von rechtsradikalen Propagandaaktionen und Übergriffen, die, das räumt jetzt auch der Pressesprecher der Stadt, Lutz Peters, ein, „nicht ernst genug genommen wurden“. Heute sehe man „die Dinge in einem anderen Licht“.

Wohl auch deshalb, weil der heimtückische Mord, so heißt es in der Verwaltungsvorlage, „die Stadt und ihr Ansehen in der Welt zutiefst getroffen hat“. Durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit will man versuchen, daß „als ausländerfeindlich diffamierte Bild Solingens wieder geradezurücken“. Dazu hat sich ein Initiativkreis, bestehend aus der örtlichen Presse und zwei ortsansässigen Werbeangenturen, gebildet.

Den naheliegenden Verdacht, daß hier PR-Strategen versucht sein könnten, ein altes Produkt in neuer Verpackung auf den Markt zu bringen, weist Pressechef Peters zurück: „Nein, wir verändern wirklich was, und das zeigen wir dann.“ Daß die Verwaltung der Stadt sich „ernsthaft bemüht“, neue Wege zu gehen, glaubt auch die Fraktionssprecherin der Grünen, Birgit Evertz. Was dabei am Ende heraus kommt, steht dahin. Die Forderung einer jungen Frau während einer Diskussion vor ein paar Tagen, erst einmal eine ehrliche Analyse der Fremdenfeindlichkeit in Solingen vorzulegen, harrt der Erfüllung. Schnellschüsse könnten fatale Folgen haben. Dazu zählt Julia Freiwald auch den kurz vor den Ferien gefaßten Beschluß des Jugendhilfeausschusses, den Kindergärten, die mehr der bisher völlig unterrepräsentierten ausländischen Kinder aufnehmen, einen fünfprozentigen Sonderfinanzzuschuß zu gewähren. Diese an sich löbliche Initiative, so befürchtet die Erzieherin, „gibt den größten Skandal aller Zeiten, weil die deutschen Eltern durchdrehen“.