■ Die Erklärung aus Wiesbaden begründet einen dramatischen Verdacht und wirft neue Fragen auf
: Außer Rand und Band

Mit einer Mischung aus Notruf und demonstrativer Dienstaufsichtsbeschwerde wandten sich die Schweriner Staatsanwälte am Donnerstag an den Norddeutschen Rundfunk. Der Sender sollte Namen und Adresse des „Dritten Manns“ von Bad Kleinen herausrücken und so helfen, die Mauer des Schweigens einzureißen, hinter der sich die für die Aufklärung von Kapitalverbrechen – um nichts Geringeres geht es – zuständigen Bundesbehörden verschanzen. Von Nachrichtensperre kann nicht länger die Rede sein. Über „ermittlungstaktische Erwägungen“ fabuliert seit Alexander von Stahls Abgang niemand mehr. Jede neue Enthüllung verdichtet vielmehr den Verdacht, daß die Ämter schweigen, weil sie sich in der Doppelrolle des zu Recht Beschuldigten und des Versagers wissen. Seit drei Wochen nehmen Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz ein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch, das gemeinhin als Individualrecht gilt. Die Politik macht sich zum Komplizen, indem sie sich von den unter Verdacht Geratenen den Mund verbieten läßt.

Die eindringliche Reaktion der Wiesbadener Szene-Freunde auf die Enttarnung des „Dritten Mannes“ weist auf eine neue Dimension des Desasters: Es ist keineswegs mehr ausgemacht, daß Klaus S. sich – wie von diesen ständig suggeriert – unter der „Obhut“ der Behörden befindet. Viel wahrscheinlicher scheint, daß er sich nach dem für ihn traumatischen Showdown nicht nur aus der linken Szene – an der er weiter hängt – abgesetzt, sondern auch seine staatlichen Auftraggeber abgehängt hat. Klaus S. ist nicht in den USA. Klaus S. hat auch nicht 100.000 DM Belohnung kassiert. Alle diese Meldungen entpuppen sich als breitgestreute Nebelkerzen eines außer Rand und Band geratenen Staatsschutzapparates. In dieser dramatischen Situation verspürt der Szene-Mensch Klaus einen stärkeren Drang, sich der „Bewegung“ zu erklären als den Dienstherren der Scharfschützen von Bad Kleinen. Das wenige, was über sein „Vorleben“ bekannt ist, deutet nicht darauf hin, daß er ohne Not die Seiten wechselte. Was also haben die Behörden ihm angeboten oder angedroht, damit er zum Verräter wird?

Und wie war das mit dem „honorigen“ Rudi Seiters? Zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Information entschloß er sich zur – vermeintlich frühen – Flucht nach hinten? Eine Vermutung: Als die Staatsschutz-Mär vom entkommenen „Dritten Mann“ aufflog, war Klaus S. über alle Berge – und für Seiters das Maß voll. Gerd Rosenkranz