Estlands Russen wollen keine Ausländer sein

■ Gleichberechtigungs-Referendum in mehrheitlich russischen Industriestädten

Narwa/Sillamäe (taz) – Rund 80.000 meist russische Einwohner der nordostestnischen Städte Narwa und Sillamäe stimmten gestern und heute per Referendum über ein „autonomes territoriales Statut im Rahmen der Republik Estland“ ab. „Ich will keine Autonomie“, erklärt eine ältere Russin, die in der 21.000-Einwohner-Industriestadt Sillamäe abstimmte, „ich bin nur gegen das Ausländergesetz.“

Aus Protest gegen eben dieses hatten die örtlichen Stadträte die Volksbefragungen eingeleitet. Die russischen Stadtherren, denen vor allem ehemalige Kommunisten angehören, fürchten um ihre Plätze. Nur vier von 26 Stadträten in Narwa und nur zwei von 20 in Sillamäe haben die estnische Staatsangehörigkeit. Als „Ausländer“ könnten die Nichtesten sich dem Gemeindewahlgesetz zufolge im Oktober nicht mehr zur Wahl stellen. Auch viele der 62.000 Einwohner Narwas fühlen sich von der estnischen Regierung vergessen und vernachlässigt. Dem neuen Ausländergesetz zufolge müßten sich 55.000 von ihnen in den nächsten zwei Jahren entweder für die estnische oder russische Staatsbürgerschaft entscheiden – oder staatenlos bleiben. In beiden letzteren Fällen würden estnische Behörden über ihre Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung entscheiden, theoretisch könnten sie gar ausgewiesen werden. Ein Schock für diejenigen, die sich seit der sowjetischen Annexion des Baltikums 1940 in der estnischen Industrieregion niedergelassen haben.

Obwohl die Behörden in Tallinn die Abstimmung als „illegal“ bezeichnet hatten, hielten die Stadtherren an der Volksbefragung fest. Daran änderte auch die vor kurzem unter dem Druck des Europarates und der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) beschlossene Änderung des Ausländergsetzes nichts.

Immerhin versprach die Regierung, keine Schritte gegen das Referendum einzuleiten. Offiziell will man die illegale Volksbefragung ignorieren, doch der Unmut der russischen Bevölkerung wird nun offenbar von den estnischen Behörden ernst genommen. Ein lange angekündigter Runder Tisch fand am Wochenende in Tallinn statt, und vor einer Woche beschloß die Regierung, den 29jährigen Indrek Tarand als ständigen Sonderbeauftragten nach Narwa zu entsenden. Die Stadtväter in Narwa und Sillamäe hatten sich vorher bereit erklärt, den Schiedsspruch des estnischen obersten Gerichtes über die Legalität des Referendums zu befolgen. Doch auch wenn die illegale Volksbefragung im nachhinein als einfache „Umfrage“ ausgelegt wird, ist die Regierung in Tallinn jetzt am Zug: „Wir müssen so schnell wie möglich einen Teil der Russen integrieren“, meint Indrek Tarand.

„Die Einwohner wollen ihrem Ärger nur Luft machen“, beschwichtigt derweil Ole Kvärnö. Der KSZE-Sonderbeauftragte in Narwa warnt aber gleichzeitig vor möglichen Ausschreitungen. Seinen Angaben zufolge sind die estnischen Grenzsoldaten im Vorfeld der zwei Wahltage verstärkt worden, um die Ankunft etwaiger Provokateure aus Rußland zu unterbinden. Auch die Polizei wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Matthias Lüfkens