Deiche kapitulieren vor dem Ol' Man River

Das Hochwasser im Mittleren Westen der USA steigt und steigt, und es soll weiter naß bleiben. 29 Menschenleben hat die Flutkatastrophe bislang gefordert. In St. Louis am Mississippi bangten die Einwohner gestern um ihren Damm.

Wir hätten Reis anbauen sollen, nicht Mais.“ Der Bauer aus Graf im US-Bundesstaat Iowa reagiert mit trockenem Humor auf die feuchte Katastrophe. Dieser „strategische Fehler“, den der Landmann eingestand, wäre womöglich noch zu beheben, wenn es, wie amerikanische Metereologen voraussagen, noch wochenlang so naß bleibt. Die Schäden, die der Mississippi und seine Nebenflüsse bei der größten Flutkatastrophe in den USA seit Menschengedenken anrichtet, sind es sicher nicht.

29 Menschenleben hat die Flutkatastrophe im Mittleren Westen der USA bisher gefordert, 60.000 Quadratkilometer Land stehen unter Wasser, und die Schäden werden mittlerweile auf rund 10 Milliarden Dollar (17 Milliarden Mark) geschätzt.

Dabei haben sich die Menschen am großen Fluß mit allen auf die Schnelle zur Verfügung stehenden Mitteln gewehrt. Arbeiter, Hausfrauen und Renter haben wie in Pionierzeiten gemeinsam Sandsäcke gefüllt und geschleppt, was das Zeug hielt. 75 Millionen Sandsäcke sind an die Bundesstaaten und die Katastrophenschutzeinheiten der Armee verkauft worden, seit die Überflutungen vor einigen Wochen begannen. Die heimischen Fabrikanten fahren Sonderschichten, aus China und Thailand werden Millionen Säcke importiert. Sogar die Knackis aus den Staatsgefängnissen wurden (freiwillig oder nicht) an den Rettungsaktionen für bedrohte Kommunen am Mississippi und seinen Nebenflüssen beteiligt. Tag und Nacht wurde in Städten wie Davenport, (Iowa), Quincy in Illinois und in der Geburtsstadt Mark Twains, im verschlafenen Hannibal in Missouri, Sandsäcke vollgeschippt und gestapelt.

Nur allzuoft hat das alles nichts geholfen. Hunderte von Deichen und Barrieren brachen, die braunen Fluten ergossen sich in Wohngebiete und über die Felder. In Des Moines (Iowa) überschwemmte ein Nebenfluß des Mississippi das regionale Wasserwerk, die Trinkwasserversorgung für 250.000 Einwohner mußte eingestellt werden. Präsident Bill Clinton, der gerade noch mit seiner Tochter in den blauen Fluten vor Hawaii gebadet hatte, versprach den von den braunen Fluten geschädigten Mitbürgern mindestens vier Milliarden Mark an Unterstützung und erklärte ganz Iowa zum Katastrophengebiet.

In so manchem Fall rächte sich dabei die Aversion der Amerikanerinnen und Amerikaner gegen neue Steuern. In Davenport, der 180.000-Einwohner-Stadt am Mississippi, hatten die Bürger in den vergangenen Jahren acht Versuche der lokalen Behörden, zu einem Deich zu kommen, abgelehnt – ihr Argument: das fehlende Geld. Weil die Bundesregierung seit einigen Jahren die Deiche am Mississippi nicht mehr komplett zahlt, hätte ein solcher Dammbau die Kommune selbst auch 17 Millionen Dollar gekostet, knapp 29 Millionen Mark. Der Stadtsäckel war leer, große Arbeitgeber der Agrarmaschinenbranche durch die Farmkrise pleite gegangen, und neue Steuern wollten die Bürgerinnen und Bürger nicht zahlen.

Anders in der 400 Kilometer stromabwärts gelegenen Metropole St.Louis, dem „Tor zum Westen“. Die Stadt hat auch wegen der Wirtschaftskrise in den vergangenen zehn Jahren fast ein Achtel ihrer heute noch 400.000 Einwohner eingebüßt. Dennoch investierten die Einwohner von St.Louis nach der letzten großen Flut 1973 in einen Deich, der den gigantischen Mississippi auch noch bei 52 Fuß (ca. 17 m) Wasserhöhe eindämmen soll.

Am Sonntag stieg der Wasserpegel auf 47 Fuß, knapp einen Meter höher als 1973. Elf Flugplätze mußten nach Angaben des US- Verkehrsministeriums gesperrt werden, sechs der 16 Brücken über den Strom waren ebenfalls beschädigt oder dicht.

Aber die Dämme von St.Louis hielten noch. Nur im Süden der Stadt hatte der „Grand Ol' River“ einen Einbruch geschafft. Ein rückgestauter Nebenfluß trat über die Ufer, Hunderte von Menschen mußten evakuiert werden. Vor allem aber sorgten sich die Behörden um eine Chemiefabrik des Multis Montsano. Gestern stand die Sandsackmauer noch, die aus der Fabrik eine Festung macht. „Wir glauben, daß sie auch weiter halten wird“, macht sich die lokale Polizei Mut. „Es ist schon ziemlich erschreckend“, warnte gleichzeitig Jim Conway, Ex-Bürgermeister von St.Louis. „Wenn das Wasser noch einen halben Meter steigt, wird es ernst. Dann wird es heiß“, sagte er der Washington Post.

25 Milliarden Dollar sind seit der Jahrhundertwende für Deiche nicht nur am 6.000 Kilometer langen Mississippi/Missouri ausgegeben worden. Zu wenig für die schlimmste Flutkatastrophe der Vereinigten Staaten, wie sich jetzt zeigt. Doch in den US-Medien beschäftigt man sich weniger mit der Frage unzureichender Deiche. Statt dessen hat man den Schuldigen für das Desaster im Ausland ausgemacht. El Nino heißt der Verbrecher. El Nino ist ein Warmwasserstrom im Westpazifik, der sich alle Jahre wieder bis zur Küste von Equador vorkämpft und dann das Wetter im Norden durcheinanderbringt. Statt wie früher sich damit zu bescheiden, zweimal die Weiße Weihnacht zu verderben, habe El Nino sich diesmal länger als erwartet gehalten und für einen extrem nassen Herbst und ein nasses Frühjahr im Mittelwesten gesorgt. Die sintflutartigen Regenfälle hätten das Faß dann nur noch zum Überlaufen gebracht: die „schlimmste Flutkatastophe, seit wir Pegelmessungen machen“, so der Chef des US-Wetterdienstes Elbert Joe Friday Jr.

Die biblischen Regenfälle und die Überschwemmungen werden, soviel scheint heute schon sicher, auch die Bauern und Konsumenten im Rest des Landes spüren. Die Maisernte wird in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr um ein Zehntel schrumpfen. Auch Soyabohnen werden wesentlich weniger geerntet werden. Cornflakes und Steaks werden teurer. Die Kurse der betroffenen Nahrungs- und Futtermittelkonzerne sausen an der Wall Street in den Keller.

Doch auch Europas Bauern und Konsumenten sind betroffen. Das Wall Street Journal sagt ihnen schon jetzt höhere Preise für importierte Futtermittel und für Schweinekoteletts voraus. Auch deutsche Schweine fressen Soyaschrot aus den USA. Hermann-Josef Tenhagen