Rußland liegt hinter den Gleisen

■ In Wünsdorf leben 20.000 Angehörige der Westgruppe der russischen Truppen / Die größte deutsche GUS-Garnison wird Mitte 1994 geräumt / Pläne für eine Beamtenstadt

Die Grenze zwischen Rußland und Deutschland verläuft 40 Kilometer südlich von Berlin an der Bahnstrecke Berlin-Dresden entlang. Seit vier Jahrzehnten ist die 2.700-Seelen-Gemeinde Wünsdorf in einen östlich-militärischen und einen westlich-zivilen Part geteilt. Aber dem Orientierungsplan am Bahnhofsvorplatz, der offensichtlich noch aus DDR-Zeiten stammt, ist nicht zu entnehmen, daß jenseits der Bahnlinie die größte russische Siedlung Deutschlands und das Oberkommando der Westgruppe der russischen Truppen (WGT) ihren Sitz haben. Bis vor wenigen Monaten lebten dort rund 70.000 Menschen, WGT-Militärangehörige mit ihren Familien. Zehn Meter jenseits der Gleise beginnt „Klein-Rußland“. Dort errichteten die Russen einen eigenen Bahnhof. Jeden Abend macht sich von dort ein Militärzug nach Moskau auf den Weg.

Heute leben auf dem rund 600 Hektar großen Areal möglicherweise noch 20.000 Personen. Doch selbst die Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg (LEG), die von der Stadtverwaltung Wünsdorf vor einem knappen Jahr mit der Planung zur weiteren Nutzung des Geländes beauftragt wurde, konnte die ursprüngliche Einwohnerzahl lediglich anhand des Wasserverbrauchs schätzen. So streng waren die Geheimhaltungspraktiken der WGT.

Die Bahnlinie bildet noch heute die Westgrenze des Geländes. Nur eine Offizierssiedlung ragt über diese Grenze hinaus. Die Gebäude in der kleinen Exklave hatten die Nazis Ende der dreißiger Jahre gebaut.

Die Bundesstraße 96, die direkt durch das Garnisonsgelände führt, ist gesperrt, seitdem die Sowjets ihr Hauptquartier 1953 nach Wünsdorf verlegten. Zivilisten müssen auf dem Weg von Baruth nach Zossen weiter westlich einen Umweg über Klausdorf und Mellensee fahren. Eine weniger benutzte, an einigen Stellen mit tiefen Schlaglöchern gespickte Straße führt direkt an der östlichen Seite des Areals entlang. Hinter einer 18 Kilometer langen Mauer mit aufgesetztem Stacheldraht befinden sich insgesamt 680 Gebäude, darunter Lager- und Produktionshallen, Kontrollhäuschen, 28 Geschäfte, Wäschereien und Schulen.

Die letzten Militärangehörigen der WGT werden bis zum 30. August 1994 Deutschland verlassen haben. Wer das Gebiet dann nutzen wird, steht noch nicht fest. Die Bundeswehr stellt keine Ansprüche. Deshalb böten die Hinterlassenschaften, die teilweise in der Kaiserzeit gebaut worden waren, zwischen 10.000 und 35.000 Menschen Platz. Allerdings sind die Eigentumsverhältnisse noch nicht geklärt. Denn 1953 mußten rund 200 deutsche Familien ihre Häuser räumen und wurden auf die umliegenden Orte verteilt.

Für die anschließende Nutzung der Häuser, von denen einige zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. gebaut worden waren, liegen bereits Pläne vor. „Wir haben verschieden Szenarien entwickelt“, erklärt Frauke Nippel, Pressesprecherin der LEG, gegenüber der taz. Die Gesellschaft hatte im Juni dieses Jahres verschiedene Vorschläge unterbreitet, was mit dem Gebiet später geschehen soll. Eine Idee wäre eine Öko-Stadt mit 5.000 bis 10.000 Einwohnern, wenig Autoverkehr und einem hochentwickelten Nahverkehrssystem. Dort soll sich ökologisch orientiertes Gewerbe ansiedeln. Ein weiterer Plan setzt auf die vielen Bundesbeamten, die in den kommenden Jahren aus Bonn nach Berlin ziehen müssen. Für diese „anspruchsvolle Zielgruppe“ (so die LEG) könnten in Wünsdorf adäquate Freizeitanlagen und Kulturstätten angesiedelt werden, was auch der Baubranche neue Impulse geben würde.

Mit dem Gedanken an eine Einwandererstadt für 35.000 Wolgadeutsche könnte sich der Bürgermeister anfreunden. Er denkt an die guten Erfahrungen der Städte Paderborn oder Versmold an. „Aber Asylanten wollen wir nicht. Das Schießen der letzten Jahre hatte die Wünsdorfer zur Genüge belastet“, betont er.

Das Gelände solle so schnell wie möglich genutzt werden. Es laufen bereits Gespräche darüber, ob einige Teile des Areals schon vor dem vollständigen Abzug der Russen besiedelt werden könnten. Dem müsse jedoch erst der Oberkommandierende der WGT, Burlakow, zustimmen.

Die Wünsdorfer sähen es am liebsten, wenn die Bundeswehr das Gebiet übernimmt. „Dort würde eine Garnison mit maximal 3.000 Leuten wohnen“, sagt Leese. Das käme dem Mittelstand und der Gastronomie zugute. Sollte die B 96 für den Durchgangsverkehr geöffnet werden, drohe ein Chaos. Deshalb müsse die Umgehung ausgebaut werden. „Man hat Jahre verschenkt. Es hätte alles sofort losgehen müssen“, kritisiert der Bürgermeister.

Wie sehr das Gebiet ökologisch geschädigt ist, konnten bisher auch die LEG-Planer nicht ermitteln. Bürgermeister Leese spricht von „Verdachtsflächen“. Ein Fünftel der gesamten Fläche wurde technisch genutzt. Es ist damit zu rechnen, daß der Boden in diesen Bereichen mit Ölen und Treibstoff verseucht ist. „In Wünsdorf ist es möglicherweise nicht ganz so schlimm, weil sich hier das Oberkommando der WGT angesiedelt hatte“, hofft Leese. Als ich auf dem Gelände war, sahen die Straßen sauber und die Blumenbeete gepflegt aus.“ Susanne Landwehr