Eine unglaubliche Geschichte

Weil er einen Vopo anrempelte, wurde der Schweizer Anarchist Timo Zilli 1970 zwei Jahre in Stasi-Haft gefoltert/ Zurück im Westen, wird er weiter verletzt: niemand glaubt ihm  ■ Von Vera Gaserow

Ein leichter Schwips, ein kleines Straucheln, eine Hand, die reflexartig nach einem Halt hangelt und ihn – ausgerechnet! – in einer deutschen Uniformhose findet. Ein Widerwort, eine unterlassene Demutsgeste und der unaufhaltsame Rutsch in eine unglaubliche Geschichte beginnt. Es die Geschichte des Timo Zilli, aufgeschrieben von ihm selbst, weil sie ihn nicht loslassen wird – sein Leben lang.

Es ist die Geschichte eines Arbeitsimmigranten, der mitten in der Studentenrevolte nach Deutschland kommt. Sie handelt von der unfreiwilligen Reise eines Anarchisten in die Untiefen des realen Sozialismus. Es ist der Erlebnisbericht eines Italieners, aber es ist eine deutsche-deutsche Geschichte. Sie handelt von bestialischer Folter mitten in Deutschland.

Die Geschichte – ganz Ironie – beginnt am Karnevalsauftakt 1970. An diesem Abend im November fährt Timo Zilli leicht angeheitert von einer Betriebsfeier nach Hause. Beim Umsteigen auf dem Ostberliner Bahnhof Friedrichstraße gerät er mit einem ruppigen Vopo aneinander. Gerade mal zwei S-Bahnstationen sind es noch bis zu seiner Wohnung im Westteil der Stadt. Zwei Jahre später kommt er dort an: mit Handgelenken, die vom stundenlangen Hängen an der Decke einer Gefängniszelle ausgeleiert sind, mit einer Wirbelsäule, die von klassischen Foltermethoden heillos lädiert ist, mit Augen, die nach mehrwöchiger Dunkelhaft nur schwer das Licht ertragen.

Wegen des einen falschen Griffs an eine Vopo-Uniform gerät Timo Zilli in DDR-Haft. Vierundzwanzig Monate lehnt er sich dagegen auf. Er widerspricht seinen Vernehmern, beschimpft seine Wärter, schlägt zurück, wenn er deren Sadismus nicht mehr erträgt. Immer wieder wandert er dafür in die Arrest- und Folterzellen.

Er schafft es einfach nicht, sich unterzuordnen, ist renitent bis zur Selbstzerstörung. Vor allem aber sticht Zilli immer wieder in eine Wunde: er hält seinen Peinigern vor: „Ihr seid wie eure Väter.“ Ein Vorwurf, den der deutsche Staat mit dem Erbpachtvertrag auf Antifaschismus dadurch ahndet, daß er ihn bestätigt: mit permanenten Schlägen und Demütigungen, Sadismen, und preußischem Ordnungswahn.

Timo Zilli ist kein eingefleischter Antikommunist. Auch jetzt, nach 20 Jahren, wo er die Kraft hat, seine traumatischen Erfahrungen aufzuschreiben, bezeichnet er sich selbst als Sozialisten. Das gibt seiner Schilderung die Eindringlichkeit und den scharfen Blick für all die vielen kleinen und großen Anzeichen einer beklemmenden historischen Kontinuität. Denn beinahe noch eindringlicher als die Schilderung der Folterorgien brennen sich die vielen Details im Gedächtnis ein: der Schnitt der Uniformhosen, die der „antifaschistische“ Staat von der SS abgekupfert hat, der Kommando-Ton der Aufseher, der es mit dem von KZ- Wächtern auf sich nehmen kann, die preußische Pedanterie einer unsinnigen Zellenordnung, mit der die Gefangenen jeden Tag wie Tiere dressiert werden, „Männchen“ zu machen. Schon die falsche Stellung eines Zahnbürstenstiels oder der fehlende Kniff im Häftlingskäppi bringen Strafaktionen und Prügel ein.

Den schikanösen Ordnungswahn, mit dem die Uniformierten im Namen der sozialistischen Weltrevolution nichts als ihre eigene Macht demonstrierten, hat jeder noch in Erinnerung, der auf der DDR-Transitstrecke für eine achtlos weggeschnippte Zigarettenkippe die Autobahn fegen oder für eine unbotmäßige Bemerkung am Grenzübergang büßen mußte. Und doch unterlag die Verlängerung dieser Schikane bis hin zur physischen Folter einem ideologischen Gedankenstop.

Nach zwei Jahren wird Zilli nach Westberlin entlassen. Der böse Spuk scheint vorbei. Doch der Verletzung durch das eine Deutschland folgt die Verwundung durch das andere: niemand glaubt ihm, was er erlitten hat, keiner hört zu: Ärzte verschreiben Psychopharmaka, offizielle Stellen unterstellen übersteigerte Phantasie, amnesty international ist mit Folter im fernen Lateinamerika beschäftigt, die linken Genossen denken, er spinnt. Folter in der DDR? Bei aller Skepsis gegenüber den Realsozialisten – das traut man ihnen nun doch nicht zu.

Es ist die Zeit der Entspannungspolitik, man hat ihn endlich akzeptiert, den anderen deutschen Staat. Genaueres über die Zustände dort will man nicht wissen und sich einmischen schon gar nicht. Timo Zilli läuft gegen eine Wand aus Unverständnis und Ignoranz.

Dieser zweite Teil der Geschichte macht Zillis Bericht auch zu einem Buch über die deutsche Linke, denn nur wenige werden sich da nicht an die eigene Nase fassen müssen, was die ideologischen Scheuklappen und Verdrängungen gegenüber der DDR angeht. Auch Zilli hat irgendwann verdrängt – bis 1989 die Mauer fiel. Da war das alte Trauma wieder da: die Gesichter der Peiniger drohten plötzlich in der U-Bahn aufzutauchen, die Uniformen konnten über den Ku'damm spazieren.

„Ich werde alles aufschreiben, damit die Welt erfährt, was ihr angerichtet habt“, hatte Timo Zilli seinen Peinigern bei der Entlassung gedroht. Das erste Mal, in den 70er Jahren, klaute die Stasi das schon fast fertige Manuskript – auch das ein unglaubliches, aber verbrieftes Kapitel dieser Geschichte.

Beim zweiten Mal gab es die Stasi nicht mehr, dafür aber die Hinterlassenschaft ihrer Akten zum „Fall Zilli“. Auch die hat Timo Zilli in all ihrer erbärmlichen, aber gefährlichen Kleinkariertheit jetzt dokumentiert. Ein spannendes Buch, zum politischen Nachhilfeunterricht dringend empfohlen.

Timo Zilli, „Folterzelle 36, Erlebnisbericht einer Stasihaft“, Edition Hentrich, 1993, 260 Seiten, 29,80 DM