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■ Keine Arbeit, keine Familie, kein Dach, kein HimmelWer weder Arbeit noch Wohnung hat, droht unterzugehen

Der Weg vom Heimatort in die Obdachlosigkeit in der Fremde ist rasch beschrieben: Armut, Mangel an Zukunftschancen, politische Verfolgung oder einfach Abenteuerlust treiben Menschen jungen Alters aus der Heimat hinaus, in ein anderes Land, von dem sie die Erfüllung ihrer Wünsche und Träume erhoffen. Der Ausbruch aus der vertrauten Welt, aus der familiären Geborgenheit, aus der gewohnten kulturellen Umgebung, fällt niemandem leicht. Doch wenn die Flucht als einziger Ausweg erscheint, dann stürzt man sich doch in das Wagnis. Gewählt werden Länder, die reich sind, die Arbeit und Wohlstand bieten. Deutschland gehört zu der ersten Wahl. Es genießt den Ruf, unbegrenzte Möglichkeiten bieten zu können. Daß die Realität den Vorstellungen nicht entspricht, merkt man erst, nachdem man den Entschluß in die Tat umgesetzt hat. Gelingt es, die ersten Hürden der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu überwinden — was im Laufe der letzten Jahre immer schwerer geworden ist — dann beginnt der eigentliche Kampf ums Dasein. Hineingeschleudert in den erbarmungslosen Arbeitsmarkt, nimmt man gezwungenermaßen das erste beste Angebot an. Das ist den Anbietern von Arbeitsstellen wohlbekannt. Die Löhne werden soweit wie möglich niedrig gehalten, oft erhalten die Ahnungslosen keinerlei Sicherheiten, nicht einmal eine Krankenversicherung.

Bis die Neuankömmlinge diese Mechanismen des Marktes beherrschen und die in einer Industriegesellschaft herrschenden Kälte und Rigorosität durchschauen und sich dagegen zur Wehr setzen – viele schaffen es nie – vergehen Jahre. Und selbst wenn, wie sollten sie den Würgegriffen der Konkurrenz und Ellbogengesellschaft entrinnen? Die meisten von ihnen sind ohne Fach-, viele sogar ohne Schulausbildung, sie verfügen über keinerlei Sprachkenntnisse, die Integration in dieser fremden Welt fällt ihnen unsagbar schwer. Die einzige Rettung ist der Umgang mit ihren Landsleuten. So kommen Ghettos zustande, aus denen dann religiöse und politische Grupierungen und Sekten ihre Mitglieder rekrutieren. Solange nun die Betreffenden eine Arbeit haben, die ihnen ihre wie auch immer geartete Existenz sichert, solange wird der Alltag schleppend überwunden. Doch wird man vom Gespenst der Arbeitslosigkeit heimgesucht, schlägt einem das Unglück unaufhörlich Fäuste ins Gesicht. Der nächste Schritt führt zwangsläufig in die Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Drogensucht, Kriminalität.

Bis vor wenigen Jahren blieben die meisten Ausländer vor diesem letzten Schritt verschont. Irgendwo gab es immer noch die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme. Doch die ständige Zunahme der Arbeitslosigkeit, von der auch immer mehr Deutsche betroffen sind, wird für eine zunehmende Zahl von Ausländern lebensbedrohend. Dieser Prozeß ist gerade durch die jüngsten Bestimmungen der Bundesregierung zusätzlich beschleunigt worden. Gemäß diesen Bestimmungen dürfen Arbeitsstellen an Ausländer und Ausländerinnen, die nicht im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung sind, nur dann vergeben werden, wenn Deutsche oder Angehörige der EG-Staaten einen Monat lang das Arbeitsangebot nicht annehmen. Solche Ausländerinnen und Ausländer werden auch in Zukunft beruflich nicht mehr gefördert oder umgeschult...

Zu dieser allgemeinen Lage kommt noch die besondere Situation der ausländischen Jugendlichen hinzu. Viele von ihnen fühlen sich ihrem Elternhaus nicht mehr zugehörig. Sie passen sich der hiesigen Jugend an, verlassen oft ihre Familie, ohne dafür einen Ersatz finden zu können. Gelingt es ihnen nicht, eine Arbeit zu finden und sich eine eigene Existenz aufzubauen, werden sie bald an den Rand der Gesellschaft oder in die Unterwelt hineingestürzt.

Wer sich in den deutschen Großstädten, in München, Hamburg, Frankfurt oder Berlin eine Zeitlang auf den Bahnhöfen aufhält, wird mit Sicherheit solche Menschen zuhauf beobachten können. Man braucht nicht lange zu warten, um mitzuerleben, wie vor allem Jugendliche von Polizeibeamten angehalten, mit dem Gesicht zur Wand gestellt, vom Kopf bis zu den Füßen abgetastet und schließlich mit Handschellen abgeführt werden. Diese Szenen sind von Monat zu Monat immer häufiger zu sehen, doch anscheinend nicht häufig genug, um die Verantwortlichen zur Einleitung von Vorbeugemaßnahmen zu veranlassen.

Natürlich trifft dasselbe Schicksal auch viele Deutsche. Doch es gibt da einen wichtigen Unterschied, den ein betroffener Ausländer mit folgendem Satz beschrieb: „Mir fehlt nicht nur ein Dach über dem Kopf, mir gehört nicht einmal der Himmel.“ Bahman Nirumand

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