Angst vor der Vergangenheit

In Dachau wird selbst eine internationale Jugendbegegnungsstätte zum Politikum / Kommunalpolitiker fürchten ums Image der Gemeinde  ■ Aus Dachau Corinna Edmundt

Dann hält sie nichts mehr. Die langsam gesungenen Lieder in hebräisch und jiddisch, die gelesenen Holocaust-Texte und der ernsthafte Tanz der Mädchen und dazu noch diese Umgebung. Eine israelische Schülerin fängt als erste an zu weinen. Junge, makellose Gesichter, die zum Boden des düsteren Mahnmals gesenkt sind. Schweigen. Auch die 15jährige Nürnbergerin Barbara weint, die 16jährige Shelly aus Israel nimmt sie in den Arm. Eine andere preßt sich die orangefarbene Rose vor den Mund, die sie später am Mahnmal niederlegen wird.

Die deutsch-israelische Schülergruppe wirkt verloren in dem israelischen Denkmal auf der weiten, leeren Fläche des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Ein paar Schritte nur sind sie vom ehemaligen Krematorium entfernt, gleich werden sie auch das noch anschauen, und wieder weinen. „Ich konnte einfach nicht anders“, sagt Barbara später, „mit den Israelis an dem Ort zu sein, an dem ihre Vorfahren umgekommen sind, hat mich völlig fertiggemacht.“

Der Besuch der Dachauer KZ- Gedenkstätte gehört zum Pflichtprogramm für alle Jugendgruppen, die am 11. Jugendbegegnungszeltlager in Dachau teilnehmen. Rund 300 Jugendliche werden bis zum 8. August in Zelten gemeinsam leben, kochen und diskutieren. Diskutiert wird in Workshops und mit Zeitzeugen, mit Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau. Das Ziel: Über die Vergangenheit, aber auch über aktuelle Fragen wie Rechtsextremismus zu reden.

Diese sommerliche Jugendbegegnungsstätte ist jedoch nur ein Provisorium. Schon vor zwölf Jahren sollte eigentlich eine ständige Jugendbegegnungsstätte her, doch die wurde in Dachau zum Politikum. Im CSU-beherrschten Stadtrat wehrten sich viele Betonköpfe gegen das Projekt – aus Angst davor, daß die braune Vergangenheit Dachaus durch eine solche Stätte noch mehr aufgewühlt werden könnte. „Wir können das nicht zulassen, daß politische Interessierte die Vergangenheit auf eine linke Art aufarbeiten“, sagte dazu Dachaus zweiter Bürgermeister Georg Englhard (CSU). Die Vergangenheit gehöre in die Hände des Staates.

1989 genehmigte der bayerische Landtag ein „Jugendgästehaus“ unter staatlicher Führung. Doch bis heute verschob das Kultusministerium den Bautermin regelmäßig. „Das ist bewußte Verzögerungstaktik“, sagt Kerstin Engelhardt vom Förderverein für Internationale Jugendbegegnung Dachau, „die Stadtpolitiker hoffen, daß sich das irgendwann von selbst erledigt.“ Solange das Haus noch nicht steht, wird es jeden Sommer das Zeltlager geben – organisiert von jenen, die auch die Jugendbegegnungsstätte bauen wollten und beim zukünftigen Gästehaus wenig zu sagen haben werden: vom Dachauer Kreisjugendring und von verschiedenen Jurgendorganisationen.

„Here you get free condoms“, steht auf einem Zettel an der Tür des umfunktionierten Bauwagens am Eingang des Zeltlagers. Geholt hat sich noch keiner eins, erzählt eine Mitarbeiterin, da müßte man die DGB-Spende eher in einen Automaten ins Klo hängen. In den großen Schlafzelten ist es vermutlich auch etwas schwierig, mal zu zweit allein zu sein.

Nebenan im Küchenzelt schnippeln zwei Jungs aus einer Stuttgarter Straffälligenhilfe zusammen mit weißrussischen Mädchen Zwiebeln und Salat fürs Abendessen. „Diese multikulturelle Atmosphäre gefällt mir unheimlich gut“, sagt der kahlgeschorene Gerald. Der 25jährige ist derzeit arbeitslos und wohnt in einer betreuten Wohngruppe, seit er aus der Jugendstrafanstalt entlassen wurde.

Der 73jährige jüdische Zeitzeuge Max Mannheimer sitzt vor den Zelten zusammen mit den deutsch-israelischen Schülern. Nachdenkliche Blicke, Nägelkauen. Auf englisch erzählt Mannheimer seine ganz persönliche KZ- Erfahrung und schiebt nebenbei den Jackenärmel hoch, unter dem eine tätowierte KZ-Nummer sichtbar wird. Dicke rote Tränensäcke hängen unter seinen Augen. Er erzählt unentwegt, beschreibt. Reden um zu vergessen. Seit vielen Jahren arbeitet er in dem Jugendzeltlager mit und gehört zu den entschiedenen Befürwortern einer Jugendbegegnungsstätte.

„Unsere Zeitzeugen sterben uns so langsam weg“, sagt Barbara Distel, Leiterin der existierenden KZ-Gedänkstätte. Sie hat Angst, daß die Lobby für das Jugendprojekt immer kleiner wird. Für Distel ist eine Jugendbegegnungsstätte eine „dringend notwendige“ Einrichtung. „Innerhalb der Gedenkstätte gibt es zuwenig Raum für Diskussionen, vor allem auch über die Zeit nach 1945“. Zumal bräuchten Jugendliche einen Ort, wo sie sich länger aufhalten könnten. Derzeit gibt es nicht einmal eine Jugendherberge in Dachau. Während Barbara Distel für das neue Projekt kämpft, fordern die „Republikaner“ bereits im Wahlkampf die Abschaffung der bestehenden KZ-Gedenkstätte, ein Gedenkstein tue es schließlich auch.

Verstehen kann die Leiterin der Gedenkstätte die Widerstände in Dachau nicht: „Da müssen irrationale Gründe eine Rolle spielen.“ Auch der jugendpolitische Sprecher der Grünen im bayerischen Landtag, Sepp Daxenberger, wundert sich: „Wenn man das Jugendbegegnungshaus von Anfang an offensiv angegangen wäre, wäre das sehr positiv für das Image von Dachau gewesen.“

Später sprechen Schülerinnen noch mit Max Mannheimer über ihre heutigen Erlebnisse in der KZ-Gedenkstätte. Jetzt sei ihr Verhältnis zu den israelischen Schülern ganz anders, sagt die 17jährige Julia, „es war gut, daß wir zusammen geheult und über alles gesprochen haben“.