Im Vakuum der Geschichte

■ W.J.F. Jenners Bestandsaufnahme von Chinas Kultur: Die Agonie der maroden Diktatur am Ende des imperialen Traums

Jenners Tour d'horizon gehört zu den zahllosen Schriften der letzten Zeit, die das Ergebnis des Nachdenkens nach den gewaltsamen Ereignissen von 1989 sind. Der Autor, der lächelnd bemerkt, er bringe „Ansichten und Urteile eines 50jährigen Engländers der Mittelschicht“ vor, ist derzeit Professor für Sinologie an der Australian National University in Canberra. Vorher eher als angesehener Übersetzer klassischer Romane wie der „Reise nach dem Westen“ und von Werken der Gegenwartsliteratur der achtziger Jahre Chinas hervorgetreten, ist er durch die englische Universitätsmisere vor wenigen Jahren nach Australien getrieben worden, wo sich Regierung und Gesellschaft neuerlich betont China und Asien überhaupt zuwenden.

Jenner, der in den sechziger und frühen siebziger Jahren wie viele andere als überzeugter Linker China studierte und kennenlernte, vollbringt eine Bravourleistung: Er hat für dieses Buch einmal alle Fachliteratur und alle Gelehrsamkeit beiseite gelassen und statt dessen in zupackender Sprache seine Meinung zu den unbequemen Fragen, zu „Problemen gewaltsamen Ausmaßes“, die uns heute alle angehen, vorgelegt. Kurz, er spricht über den Untergang, den unrettbaren Verfall der traditionellen Kultur Chinas, er zerpflückt die vielen Mythen des klassischen Imperiums und schaut über die Krise der maroden kommunistischen Diktatur in eine „postimperiale Welt“. Wer sich über Osteuropa und über die Sowjetunion hinweg die Frage nach der Zukunft des unruhigen asiatischen Landes und mögliche Auswirkungen der Krise Chinas auf die ganze Welt stellt, sollte diese Studie lesen, von jungen Sinologen bis zu den Verantwortlichen in der Wirtschaft, bei denen inzwischen aus mittelfristiger Perspektive schon wieder so etwas wie gebremste Euphorie aufgekommen ist. Ich würde dieses Buch auch unserem Außenminister und den Ministern der Länderregierungen auf den Tisch legen, die sich plötzlich wieder so „pragmatisch“ um engere Kontakte mit dem Land der Mitte bemühen.

Der Autor entlarvt die orthodoxe chinesische Sicht der Geschichte vom einheitlichen chinesischen Reich als eine kulturelle Fiktion, die geistigen Imperialismus sowie Unterdrückung anderer Bevölkerungsgruppen und Unverständnis dem Ausland gegenüber weitergezeugt hat. Han-chinesischer Expansionismus geht nach wie vor vom Mythos der chinesischen Einheit aus, wo doch in den letzten 1.700 Jahren China fast immer unter Fremdherrschaft – zuletzt unter der demütigenden Fuchtel der Mandschus – stand. Ganz im Gegensatz zu Japan hat sich das China der letzten zwei Jahrhunderte auf keinerlei Neuerungen so recht einstellen können, es ist im Gegensatz zu Japan fürs Neue geradezu blind gewesen.

Jenner zeigt Konfuzius, dessen Lehre China ideologisch bestimmt hat, als Feind des Fortschritts. Mit einem Seitenhieb gegen Staatsführer wie Singapurs Seniorpolitiker Li Guangyao entlarvt er die Bedeutung eines wiederbelebten Gegenwarts-Konfuzianismus, den Neunmalkluge sogar den westlichen Wirtschaften verordnen möchten, als schiere Fiktion. Als politische Philosophie sei sie für die gegenwärtige chinesische Welt von zweifelhaftem Wert. Die Wirtschaftserfolge von Taiwan, Singapur, Südchina und Hongkong seien nicht auf der Grundlage solch traditioneller Ideologie, sondern im Gegenteil nur gegen sie möglich geworden – für Japan und Korea gelte das Gleiche. Westliche Vorbilder, die mit dem europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts Eingang fanden, haben bis heute Wandel und Neuerung belebt. Taiwan hat es China vorgemacht: eine westlich geprägte wirtschaftliche Mischform mit großen Unternehmen in staatlicher Hand und einem blühenden privaten Sektor wurde das Erfolgsrezept, das Taipeh jetzt in die chinesischen Küstenregionen exportiert.

Jenner meint, daß Kennzeichen demokratischer Politik wie Toleranz des Verschiedenartigen und das Mißtrauen gegen Personen oder Gruppen, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit glauben, in China noch lange keinen Nährboden haben dürften. Die Verbindlichkeiten im Familien- und Gemeinschaftsraum begrenzen nach wie vor die Fähigkeit der Einzelnen, sich als autonome Individuen zu verstehen. Die autoritären Werte aus chinesischer Vergangenheit und Gegenwart lassen keine Koexistenz rivalisierender und im Grundsatz unverträglicher Auffassungen von der Welt und vom menschlichen Leben überhaupt zu. Der Autor begrüßt, daß sich seit 1989 das Thema von der demokratischen Zukunft Chinas angesichts der „offenkundigen Despoten übelster Art“ in Peking sich mit Macht in den Vordergrund gedrängt hat. Er findet es allerdings problematisch, daß die demokratische Eloquenz der Protestgruppen und politischen Emigranten in den vier Jahren nach dem Massaker nur selten von demokratischem Handeln begleitet wurde. Auch die Feinde der kommunistischen Diktatur haben eine unheilbare Vorliebe für autoritäre Organisationen an den Tag gelegt. Zuletzt fragt Jenner, wie überlebensfähig China eigentlich sei und welche Auswege blieben. Da das Ende der traditionellen chinesischen Zivilisation gekommen sei, habe die Krise heute tiefere Gründe als die verheerenden Ergebnisse permanenter Machtkämpfe. Bis jetzt habe sich in Chinas Hochkultur die Zivilisation des kaiserlichen China fortgesetzt. Auch dem Schriftsystem schreibt der Autor eine schädliche, weil einengende Wirkung zu: Jenner meint, daß die Strukturen der chinesischen Schriftsprache ein Hindernis für Klarheit des Ausdrucks und des Gedankens, der strengen logischen Argumentation seien. Man habe zwar viel Blut vergossen um reine Begriffs- und Wortchimären in den gewaltigen Debatten, wie etwa der Kulturrevolution. Damals habe jedoch trotzdem jeder Ansatz zu einer Diskussion politischer Fragen, jede Analyse der ökonomischen, sozialen oder politischen Struktur des Landes gefehlt. Das gesamte chinesische Schrifttum, die Literatur Chinas der letzten Jahrhunderte, sei mit wenigen Ausnahmen schwächer als alles, was vorherging. Ob aber ein Neuaufbruch Chinas mit phonetischer Schrift, wie Jenner zu glauben scheint, so grundsätzlich neue Ausgangspositionen für China bringen könnte, bleibt mir doch sehr fraglich.

Für Jenner hat Chinas allgemeine Krise ein unvorstellbares Ausmaß erreicht. Sie ist mit einigen konventionellen Maßnahmen nicht zu lösen, auch der Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur dürfte keineswegs eine lichte harmonische Zukunft bringen. Er nimmt China direkt in die Verantwortung und ruft zu weitsichtigerer Planung auf. Es gibt Möglichkeiten, die Krise für viele zu mildern: trotz 3.000jähriger Assimilation hat die Mehrheit lokaler Kulturen überlebt, dazu kommt die große Vielzahl gesprochener Sprachen, die nur politisch als Dialekte eingestuft sind. China könnte seine Utopie von der Konformität aufgeben. Statt einer auf orthodox- repressiver Einheitlichkeit basierenden Hochkultur könnte ein vielgestaltiges, interessantes Land entstehen, in dem nicht weiter unterdrückt, unterschätzt und verschwiegen wird, was sich allerorten Neues entwickelt. Volkskulturen und Kleintraditionen würden etwas bieten, wo die Hochkultur erschöpft ist.

Der Tod der genormten und normierenden Ideologie ist für Jenner eine Tatsache. Er sieht als optimistischste Zukunftsprojektion eine auch sprachlich definierte nationale Vielfalt, wie sie Europa zu Farbigkeit und Vitalität verholfen hat. Jetzt hat die Pekinger Zentrale einfach nicht mehr die Kraft, alles zu kontrollieren, wie noch in der Mitte der 50er Jahre. Jenner sieht Shanghai als bedeutendes Wirtschafts- und Medienzentrum der Zukunft an einem politisch geschwächten Peking vorüberziehen. Er schiebt auch die von der Regierung bemühte Furcht vor den politischen unerfahrenen Oppositionellen und Emigranten zur Seite; nur aus der entfremdeten Jugendkultur der großen Städte dürfte die Erneuerung kommen, weil die Älteren weder hören noch verstehen. Wir sind also Augenzeugen einer Phase des Nihilismus, die das Vakuum schafft für Jenners Vision von einer Vielzahl künftiger postimperialer chinesischer Kulturen. China scheint bislang auf die Herausforderung des 21. Jahrhunderts schlecht vorbereitet. Helmut Martin

W.J.F. Jenner: „Die Tyrannei der Geschichte. Chinas langer Weg in die Krise“ Aus dem Amerikanischen von Ute Spengler, Klett CottaVerlag 1993, 370 Seiten, 48DM