Eine fast schon perfekte Erfindung

■ Die technische Entwicklung des Velos vollzog sich nur langsam

Kaum eine neuere technische Entwicklung hat sich so langsam vollzogen wie die des Fahrrades. 1879 wurde das erste Rad mit Kettenantrieb, das Rover-Sicherheitsrad, vorgestellt. Zehn Jahre später setzte sich die Luftbereifung durch. Einige wichtige Neuerungen kamen noch Anfang dieses Jahrhunderts dazu: die Sachs-Freilaufnabe mit Rücktrittbremse und wenige Jahre später die Drei- Gang-Nabe von Sturmey/Archer. Danach tat sich lange nichts mehr. Nun stelle man sich bloß zum Vergleich einmal vor, das Auto sähe noch heute so aus wie anno 1910 und wir trügen den passenden Frack mit Zylinder dazu.

Aber auch in der Zeit davor wurde das Rad stiefväterlich behandelt. Es dauerte fast ein ganzes Jahrhundert, bis sich aus hoffnungsvollen ersten Ansätzen ein gebrauchsfähiges Fahrzeug entwickelte. 1817 wurde die Draisine erfunden, ein hölzernes Zweirad ohne Pedale. Es dauerte bis 1862, bis der Franzose Micheaux das Vélocipède präsentierte, den Vorgänger des Hochrads. Dieses blieb jedoch waghalsigen jungen Stutzern vorbehalten, die damit der Dame ihres Herzens imponieren wollten. Noch ein Vergleich: Die Entwicklung von der Dampfmaschine zur Eisenbahn vollzog sich schon ein halbes Jahrhundert früher und brauchte nur 60 Jahre.

Nach dem Ersten Weltkrieg aber schien sich das Blatt zu wenden – das Fahrrad versprach Mobilität für jedermann und jedefrau. Allerdings währte diese Blüte der Fahrradkultur nur bis in die fünfziger Jahre. Mit der immer breiteren Verfügbarkeit des Automobils sank das soziale Prestige der Radfahrerin, sie war im Verkehr nur ein Hindernis. Das Radfahren blieb denjenigen, die kein Auto fahren konnten, also Kindern und Rentnern, vorbehalten. Dieser Klassifizierung scheinen Verkehrsplaner bis heute verhaftet: daß man schneller als 15 km/h radfahren kann, ist für sie undenkbar.

Die Fahrradevolution lief in den folgenden Jahrzehnten im Rückwärtsgang. Die Produktion stagnierte, der Absatz war zu gering, um höhere Preise verlangen zu können. Die Fahrradhersteller senkten lieber die Kosten – was einer Qualitätsminderung gleichkam. Glücklich, wer noch ein Erbstück von Oma sein eigen nannte.

Das hätte, was die hiesigen Fahrradhersteller anbelangt, das Ende der Geschichte sein können – wenn sie da nicht unversehens durch die Ankunft des Mountainbikes aufgeschreckt worden wären. Wie jeder Fortschritt seit Coca-Cola und Computer kam auch das Mountainbike aus den USA. Seit etwa fünf Jahren ist der Fahrradmarkt wieder in Bewegung geraten. Neuartige Bremsen und Gangschaltungen, neue Rahmengeometrien und bessere Verarbeitung bieten ganz neuen Fahrgenuß. Aber immer noch sieht das Fahrrad nur in wenigen Details anders aus als vor einem Jahrhundert. Davon kann auch kein neonfarbenes Design ablenken.

Vielleicht ist das Fahrrad ja, so wie es ist, schon die (fast) perfekte Erfindung. Ein letzter Vergleich: Emma A. steigt gegen Abend in ihr Auto. Zuvor muß sie, da es schon dämmert, noch den Dynamo an den rechten Vorderreifen drücken. Auch checkt sie noch schnell, ob das Rücklicht funktioniert. Denn das dünne Drähtchen, das vom Dynamo über die Regenrinne am Autodach nach hinten verläuft, war schon zu oft kaputt. Gut, das Licht geht. Kurz nachdem sie losfährt, beginnt es zu nieseln. Emma A. zieht die Kapuze über. Gott sei dank hat sie kürzlich im Sonderangebot für nur 399 Mark eine spezielle Autojacke, übrigens hinreißend gemustert, ergattern können. Daß der Schlamm von unten hochspritzt... – nun, sie trägt sowieso nur festes Schuhwerk. Bloß daß der Dynamo bei Regen immer durchrutscht und deshalb das Licht ausfällt, das geht ihr schon ein bißchen auf die Nerven. Na ja, da muß sie halt auf dem Bürgersteig fahren.

Würden wir ein solches Auto tatsächlich als die perfekte Erfindung ansehen, bei dem als letzte Verbesserung allenfalls noch 86 Gramm Gewicht durch Konstruktionsverbesserung des Lenkrades eingespart werden könnten?